Szenen eines Tages

Der Schwimmer

Eine Frauenstimme kreischt durch die Lautsprecher der Schwimmhalle: „Ende der Badezeit ist in 45 Minuten!“
Das Becken liegt ruhig und mit spiegelglattem Wasser da. Die Liegestühle ringsherum sind schon verlassen, niemand schwimmt mehr und nur das Rauschen der Pumpe ist zu hören.
Ein junger Mann, Mitte zwanzig, unscheinbar, betritt die Szene. Mit ernstem Blick tritt er an den Beckenrand, als würde es um die langersehnte Goldmedaille gehen – ein richtiger Schwimmer. 

Ordentlich stellt er seine Badeschlappen an den Beckenrand. Aus einem Etui nimmt er seine verspiegelte strahlend weiße Schwimmbrille und legt das Etui perfekt ausgerichtet auf seine Schuhe.
Im Wasser reinigt er die Gläser gründlich mit Spucke. Ein verbissener prüfender Blick – noch nicht sauber. 
Kleine Wellen zeichnen sich auf der Wasseroberfläche ab.
Mehrmals setzt der junge Mann die Brille auf und wieder ab, justiert, putzt. Es vergehen gut zehn Minuten. Er atmet tief ein, ich halte die Luft an. 100 Meter Brust – wie ein Pfeil wird er durch das Wasser schießen. 
Zielsicher taucht er ins Blaue. Ich suche das Becken ab, bestimmt wird er in der Beckenmitte mit langen Zügen auftauchen.

Fast da, wo er gestartet ist, ploppt der Kopf des Schwimmers wieder an die Oberfläche. Er holt Luft, taucht unter. Irgendwie kommt er nicht vom Fleck und seine Füße platschen jedes Mal seltsam aus dem Wasser. Das Wasser kräuselt sich irritiert.
Vielleicht braucht er noch einen Moment, um in den Flow zukommen, denke ich.
Doch nach zwei Bahnen klammert er sich schnaufend an den Beckenrand. Time out – disqualified. Ich verlasse etwas enttäuscht meinen Liegestuhl.

Kurzgeschichte

Der Weihnachtsbaumkauf

Weihnachtsbaumkauf – Es ist ein herrlicher Wintermorgen, als er seine Äste der Sonne entgegenstreckt. Ein kleiner Zaunkönig lässt sich zwischen seinen saftig grünen Nadeln nieder und singt seinen Morgengruß.
„Das war aber ein schönes Lied“, sagt er zu dem kleinen Vögelchen.
„Danke“, antwortet es. „Ich bin Fridolin und wer bist du?“
„Ich heiße Theobald“, sagt der Baum. „Du darfst dich gern an meinen Zapfen stärken.“
Die beiden plaudern noch ein wenig, bis der kleine Zaunkönig in den Tag aufbricht.

Theobald liebt den Winter, es ist nicht so warm und so viel ruhiger. 
Wäre da nur nicht immer wieder dieses „Tschaaackkk!“, „Tschaaackkk!, gefolgt von einem langsamen Knarzen und einem lauten „Tschhhhht!“. Die anderen um ihn herum erzählen davon. Es sind die Menschen, die wie jedes Jahr zwischen den Bäumen umher marschieren, vor einem stehen bleiben, ihn abhacken und mitnehmen. Bei Theobald sind sie bisher immer vorbeigegangen.
Er beschließt, noch ein Weilchen dem Vogelgezwitscher in der Ferne zu lauschen. Er gähnt und bald schon fallen ihm die Augen zu.

Eine piepsige und laute Stimme weckt ihn auf. 
„Papa! Ich will den! Ich will den Baum da!“, schreit ein kleines Mädchen und zeigt auf ihn. Auf Theobald. Ihm gefriert fasst der Baumsaft im Stamm. 
Zwei erwachsene Menschen tauschen bunte Papierchen und kleine runde Dinger. Dann greift einer von beiden nach einem komischen Ding.

„Tschaaackkk!“, macht es. Aua! Das hart weh getan. Theobald schaut zu den anderen Tannen. Mitfühlend lassen sie die Äste hängen. Wieder ein lautes „Tschaaackkk!“. Theobald merkt, wie ihm schwindelig wird. 17 Jahre hat er hier gestanden. Jeden Morgen den Morgengrüßen der Vögel gelauscht. Im Sommer den Lerchen und der Nachtigall. Im Winter den Zaunkönigen, den Amseln und den Meisen. Theobald hat Schmerzen, wieder ein „Tschaaackkk!“. Er kann sich nicht mehr halten, spürt, wie er kippt. „Tschhhhht!“

Er prallt heftig auf den Boden. Spürt, wie ein Ast an seiner linken Seite bricht. Plötzlich wird er gezogen, angehoben und durch ein Ding gezogen. Hilfe, jetzt steckt er in einem Netz und kann sich nicht mehr bewegen. Ihm schwinden die Sinne. Als er wieder zu sich kommt, steht Theobald in einem Kasten, es ist warm und es gibt ein durchsichtiges Quadrat, aus dem er die Wolken sehen kann. Unten am Stamm drückt ihn etwas. Der kleine Mensch von vorhin steht vor ihm. Holt rot blitzende Kugeln aus einer Kiste und hängt sie ihm an die Astspitzen. Eine nach der anderen. Ein großer Mensch hängt ihm Lichter dazwischen. 

Das ist es nun, wovon die anderen Bäume gesprochen haben. Die Wäre hier macht ihn wieder ganz benommen. Er hat so wahnsinnigen Durst. Die ersten Nadeln fallen herunter. Hoffentlich ist es bald vorbei, denkt er noch, bevor er das Bewusstsein verliert.

[Mein Beitrag für den #shortstorydienstag von Ira Laudin und M. D. Zwist zum Thema „Weihnachtsbaumkauf“.]

Kurzgeschichte

Das leere Haus

altes Haus

Staub wirbelt auf und funkelt in den hineinfallenden Sonnenstrahlen, als ich die Haustür öffne. Ich gehe die Mahaghoni-Treppe hoch, die trotz ihrer halbrunden dunkelgrünen Teppiche leise knarzt. Ich halte mich am ebenso grünen Geländer fest. Ich erinnere mich noch an die Pflanze, die hier entlang rankte und Äffchen aus Holz und Leder, die darin hingen. Oben angekommen erblicke ich mein ausgefranstes Ich im alten Garderobenspiegel. 

Rechts zeigen vier kleine Fenster auf die Straße hinaus, an einem der Fenster ist die kleine Gardine zur Seite geschoben. Ich öffne die Wohnungstür und trete langsam hinein. Rechts steht die Tür zum Schlafzimmer auf. Der alte schwere Holzschrank hält hier noch einsam die Stellung. Die alte Wanduhr ist stehen geblieben. Drei Minuten vor Zehn. Ihr lautes Ticken habe ich noch im Ohr. Ich schaue nach links. An der Wand steht die Kommode, in der immer die Schokolade versteckt gewesen ist. Darauf steht das alte Grüne Telefon. An der Wand hängen Familienfotos, welche in Farbe aus den 1990ern und 80ern, andere in schwarz-weiß  von Anfang der 1930er Jahre und eines von dem alten Volvo Kombi. 

Hinter dem Makrameevorhang, der sein strahlendes Weiß schon lange verloren hat, ist die kleine Küche mit der Dachschräge. Das pulsierende Herz des ganzen Hauses, für 22 wurde hier gekocht. Heute klappern keine Töpfe mehr und statt Bratenduft, liegt Muff in der Luft.  Die lange Schrankwand zeiht mich weiter in den Raum.  

Meine Schritte auf dem grünblauen Fliesenboden. Mein Blick schweift vorbei an den alten Klassikern und einer ganzen Reihe Rätselbüchern, die eine kleine graue Büffel-Statue stützt. In der großen Obstschale, die immer bunt gefüllt gewesen ist, liegt eine Wallnuss. Ich nehme sich hoch. Sieht noch ganz ok aus. Als ich sie wieder in die Schale gleiten lasse, hinterlässt sie eine Spur in der dicken Staubschicht. 

Auf der anderen Seite des großen Wohnzimmers war die gemütliche Sofaecke. Der braun-gekachelte Wohnzimmertisch und der schwere Röhrenfernseher mit der dicken Lupe stehen noch auf dem dicken Teppich. Auf dem Tisch liegt das Programmheft noch aufgeschlagen, die Fernbedienung gleich daneben. 

Ich gehe durch den Raum, ziehe einen Stuhl vom achteckigen Esstisch. Hier haben wir alle gesessen, gelacht, geredet und gegessen. Der große Tisch, voll mit Essen — Braten, Festtagstorte und auf dem Weg zum Spielen noch die Scheibe Käse auf die Hand. Dann sind die ersten gegangen, andere verblasst. Immer mehr Stühle blieben leer. 

Ich streiche behutsam eine Falte aus dem beigen Leinentischtuch. 

All die Bilder, wie ein Kinofilm in meinem Kopf. Kann es noch hören, das Lachen und Geschrei. Spüre noch die Umarmung, die nicht bewertet, einfach nur liebt. Das Gefühl von Zusammenhalt. Ich rieche noch den Hauch von Melisse in der Luft, der fasst verflogen ist. Höre noch das Mandolinenspiel zum Abschied am Fenster. 

Vom Balkon fällt mein Blick in den Garten, der sich bis da ganz hinten an den Waldrand schmiegt. Da haben wir gespielt, sind über die alten Bunker gesprungen, haben uns hinter Bäumen versteckt. Im Garten gab es eine Schaukel, einen Sandkasten. Es war bunt, voll Blumen und Beeren und einem Pflaumenbaum. 

Jetzt ist der Garten nur noch eine wilde Wiese, der jede Liebe fehlt. 

Eisige Stille hüllt mich ein. Es ist Zeit. Ich gehe die Treppen hinunter, lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Ein letzten Mal drehe ich mich um, zu diesem leeren Haus das keine Seele mehr hat.

Kurzgeschichte

Warten

Die Anzeige rattert, ich recke den Hals. In roten Buchstaben erscheint das Wort „inställt“ – abgesagt. Mein Zug von Stockholm nach Berlin fällt aus. Samstagabend, kurz nach 21 Uhr. Jetzt noch ein bezahlbares Bett zu finden, ist unmöglich. Ich muss warten, bis am Morgen ein Zug fährt.

Hart und kalt ist die lange Holzbank am Kopf der riesigen Bahnhofshalle. Alle Läden und Cafés haben schon geschlossen. Ich klappe den Kragen hoch und vergrabe meine Hände in der Jacke. Im Zehn-Minuten-Takt spucken die Züge Menschen aus, die eisige Kälte von den verregneten Bahnsteigen hereinbringen. Neben mir sitzen ein paar Wartende, die Augen fest auf ihre Telefone geheftet. Reisende queren meinen Blick. Auch sie starren alle wie Zombies auf ihre Telefone. Fast umsonst tauchen die goldenen Leuchter an der Gewölbedecke, verziert mit einer beflügelten Krone, die imposante Bahnhofshalle in ein angenehmes Licht und spiegeln sich auf den Marmor-Fliesen.

Ich merke die Müdigkeit eines langen Tages in mir aufsteigen. Schäbige alte Holzbank.

Eine ältere Dame im dicken Wollmantel setzt sich neben mich. „Wenn sie erlauben?“, fragt sie. Auf dem Kopf trägt sie ein seltsam altertümliches Hütchen. Vielleicht trug man es so vor 150 Jahren. Sie blättert in einer Tageszeitung. Ich versuche eine Überschrift zu lesen und bleibe am Tag hängen. 

„Stockholm söndag den 18 december 2022“, nicht mehr lange, dann ist Weihnachten, denke ich.

Mir fallen die Augen zu. Gleich schrecke ich wieder auf. Ich muss auf die Fahrplan-Anzeige schauen. Mein Zug nach Berlin – vielleicht fährt einer ganz früh am Morgen. Die Anzeigetafel über dem bunten Kiosk ist verschwunden. Stattdessen steht am Boden eine Holztafel, auf der kleine Schildchen stecken.

Da stehen Uhrzeiten, Züge und Bahnsteige drauf. 21:12 Berlin. Ein Bahnbeamter in fast militärischer Uniform sucht aus einem Kästchen ein weiteres Schild und steckt es dazu: „inställt“. Vom Bahnsteig ertönt ein lautes Pfeifen wie von einer Dampflok. Mir fällt auf, dass der Kiosk selbst auch nicht mehr da ist. Verwirrt setzte ich mich wieder auf meinen Platz auf der Bank. Es ist plötzlich lebhaft geworden. Die Menschen unterhalten sich angeregt, sie schauen umher, schauen sich an. 

Frauen in Winterkleidern mit gepufften Ärmeln und Wollmänteln mit kleinen Hütchen auf dem Kopf, flanieren neben Männern mit Gehstock und Zylinder. Die Läden mit ihren bunten Reklamen sind nicht mehr da, nur ein Café gibt es noch. 

Eine junge Frau fragt, ob sie sich setzten darf. Sie trägt einen dicken Wollmantel. Auf dem Kopf trägt sie ein kleines Hütchen. Man trägt es so. Sie blättert in einer Tageszeitung. Ich versuche eine Überschrift zu lesen und bleibe wieder am Tag hängen. „Stockholm torsdagen den 18 december 1884“ steht dort geschrieben. Ich muss hier raus an die frische Luft. Irgendetwas stimmt nicht. Ich springe auf, mein Herz rast. Ich renne die unendlich lange Bahnhofshalle entlang. „Hoppla!“, ruft ein Zylinder. Die Tür schwingt auf. Es schneit. Der Vorplatz ist weihnachtlich geschmückt. Ich weiche einer Pferdekutsche aus, die weitere Reisende bringt. Springe einem Mann mit Handkarren aus dem Weg. „Hey!“, ruft jemand. „Sie können hier im Bahnhof nicht schlafen.“

Kurzgeschichte

Der Handwerker

Im Haus ist es noch ganz still und verschlafen. Nur das leise Gurgeln der Kaffeemaschine ist unten in der kaum beleuchteten Küche zu hören. In der Ferne rauschen die Frühaufsteher über die Autobahn. Wenn man wirklich lauscht, dann kann man sogar das Ticken des großen Zeigers wahrnehmen, der sich schwerfällig zur Zwölf quält, während der Kleine ihm voraus jahgt. Draußen ist es noch stockfinster. Die leicht pink- und rotfarbenen Schlieren der ersten Sonnenstrahlen lassen den Morgen nur erahnen.

„Guten Morgen Schatz. Hast du gut geschlafen?“, sagt sie. Das Frühstück steht schon für ihn auf dem Tisch, als er in die Küche kommt. Mit einem festem Griff, setzt er den Becher an und trinkt einen großen Schluck Pfefferminztee. Ein herzhafter Biss vom Brötchen folgt. Es ist dick mit Leberwurst beschmiert und landet gleich wieder neben den Apfelstücken auf dem Frühstücksbrett. 

Im Flur zieht er den Reißverschluss seiner Fleecejacke zu und inspiziert kurz die Flecken auf Brust und Ärmeln. Zeugen einer harten und dreckigen Arbeit. Den Werkzeuggürtel schnallt er heute lockerer um, sieht besser aus. Alle Werkzeuge stecken in ihren Schlaufen: Hammer, Schraubendreher, Zollstock, ein dicker Bleistift. Die Werkzeugkiste mit Bohrer, Schrauben und Dübeln steht schon an der Tür.

Er wirft noch einen Blick in den Spiegel, setzt den gelben verschrammten Baustellenhelm auf und springt in die schweren Sicherheitsstiefel. Unter den Sohlen klebt noch dick die Erde aus der letzten Baugrube. Die Hände gleiten schnell in die neuen Arbeitshandschuhe. Noch ganz sauber und in frischen Farben.  Dann öffnet er die Tür und ruft in die Stille: „Los Mama, ich muss in den Kindergarten!“

Die Geschichte „Der Handwerker“ war mein Beitrag für den damaligen #shortstorydienstag von der geschätzten Kollegin Ira Laudin und M. D. Twist zum zum Thema „Wartehalle“. 

Interview

Fundstück: Farin Urlaub im Interview

Ein Fundstück aus längst vergangenen Zeiten. Damals im Sommer 2005, durfte ich Farin Urlaub in Bremen interviewen. Der Gitarrist der Die Ärzte war damals solo mit dem Farin Urlaub Racing Team unterwegs. Wir sprachen über sein da aktuelles Album „Am Ende der Sonne, Die Ärzte, die Foo Fighters und das Gebläse der The Busters.

Schön dich zu sehen und vielen Dank für deine Zeit.

Farin Urlaub: Gern. Wie gehts denn?

Danke, gut geht es, auch wenn es echt warm ist.

Farin Urlaub: Ach, geht. Wir haben in Hamburg gespielt, da war es so unfassbar heiß. War richtig cool, nur in der Halle hat es Schweiß geregnet… Bäh!

Das klingt ekelhaft. Und wie gehts selbst, wie läuft die Tour so bisher?

Farin Urlaub: Sehr gut gehts. Es läuft viel besser, als ich dachte.

Ich hab so die ersten Kritiken gelesen… viele fanden die Konzerte nicht lustig, denen fehlte der gewohnte Die Ärzte-Humor.

Farin Urlaub: Das ist ja auch nicht lustig, aber guck mal… Ich bin ja nicht DIE ÄRZTE 2. Das wäre ja Quatsch. Es schreiben mir auch manchmal Leute, die es glaube ich wirklich nicht verstehen wollen: „Warum spielt der denn so wenig lustige Stücke und warum macht der denn so wenig Ansagen?“ Da denke ich: Ja, aber das gibt es doch alles schon. Dann müsste ich ja keine extra Band machen. Aber zum Glück sind das nur wenige. Nur sind die wenigen ja meistens laut. Das sind die, die den ganzen Tag im Internet hängen.

Also die Konzerte laufen richtig super. Nicht nur von den Zuschauerzahlen her – heute ist nun mal nicht ausverkauft, wir sind auch spät umgezogen [Konzert sollte im Bremer Aladin stattfinden] – aber sonst läuft alles gut.

Ich glaub, in Bremen liegt das auch an der unglaublich hohen Arbeitslosigkeit. Wir haben auch mit den Ärzten immer Probleme. Bremen hat vielleicht die Hälfte der Größe von Hamburg und wir spielen hier vor weniger als dem Viertel der Leute. Ich glaub nicht, dass es daran liegt, dass die uns nicht leiden mögen. (lacht)

Ja, hier spielen tatsächlich wenige gute beziehungsweise große Bands.

Farin Urlaub: Hey, was willst du denn damit sagen?! Oh!… Schon so spät? (alle lachen) Im Ernst, die Konzerte machen richtig Spaß und laufen richtig gut.

Ein Gerücht: Nach dieser Tour ist Schluss mit dem Racing Team.

Ja, klar. Wie oft haben Die Ärzte sich jetzt schon aufgelöst? (lacht) Nein, nicht wahr. Wahrscheinlich wissen die, die das behaupten, auch schon, wie mein nächstes Album heißt.

Also ist das Farin Urlaub Racing Team für dich viel mehr als nur ein Projekt auf Zeit?

Farin Urlaub: Nee, Projekte mache ich nicht. Projekte mag ich nicht. Projekte sind doof.

Na, vom rein musikalischen Aspekt her würde ich dann auch eher Die Ärzte auflösen.  

Farin Urlaub: Dankeschön. Wobei, ich darf ja gar nicht Dankeschön sagen, ich spiele ja bei beiden Gitarre und singe. Ich habe jetzt schon oft so Sachen gehört wie: „Was ist den besser? Vergleich mal.“ Das kann man halt nicht.

Musikalisch hast du jetzt mit dem Racing Team auf jeden Fall mehr Freiheiten.

Farin Urlaub: Komischer Weise nicht. Also mehr Freiheit als bei den Ärzten kann man eigentlich gar nicht haben. Was ich habe, ist für mich der große Unterschied, ich habe ein kleines Orchester auf der Bühne. Ich kann live viel mehr machen. Live liegen die Qualitäten der Ärzte ganz wo anders. Was ja offenbar auch von ein paar Leuten vermisst wird. Eben dieses Anarchistische und Spontane.

Das mit dem Racing Team wird nicht so spontan sein. Die Stärke vom Racing Team liegt meiner Meinung nach darin, dass du halt wirklich ’ne Wand von der Bühne schicken kannst. Wall of Sound – und das find ich geil. Und ich frag mich natürlich auch selbst: Wo mit will ich irgendwann mal alt werden, mit „Der lustige Astronaut“ oder lieber mit „Sonne“? Ich überlass dir jetzt mal die Antwort. (lacht)

Danke. Dein neues Album „Am Ende der Sonne“ klingt, verglichen mit „Endlich Urlaub!“, völlig anders. Nicht mehr nach einem Ego-Trip des Die Ärzte-Gitarristen, sondern nach etwas komplett Eigenem.

Farin Urlaub: Ja, die Erste war ja eigentlich ursprünglich noch anders geplant. Sollten ja eigentlich wirklich nur die Songs sein, die es eben nicht zu den Ärzten geschafft haben. Bei denen ich aber der Meinung war, dass die zu schade sind, um sie wegzugeben. Da hab ich jetzt immer noch 80, glaub ich zu Hause. Also Songs, die ich immer noch veröffentlichungswert finde. Unveröffentlichte hab ich noch viel mehr. Angeber!

Dann hab ich aber ziemlich schnell gemerkt, dass mich das schon nicht befriedigt und habe irgendwas aufgenommen. Deswegen erklärt sich auch, warum auf dem ersten Album so Stücke wie „Der Kavalier“ neben „…Und die Gitarre war noch warm“ und dann „Ok“ stehen. Der Song „Ok“ war eigentlich schon das erste Mal, dass ich im Studio dachte: Das würden Die Ärzte überhaupt nicht nehmen, aber das macht mir total Spaß.

Und dann haben wir das live gespielt und es hat total funktioniert und – also jetzt die Kurzversion: Der Gedanke war: Wenn ich ein zweites Soloalbum mache, soll es mehr wie eine Band klingen und mehr Richtung „Ok“ gehen. Ohne das jetzt noch mal zu kopieren und ich finde, ich hab das über weite Strecken geschafft. Die Band hatte ich ja beim ersten Album noch gar nicht.

Durchaus. Und viel Foo Fighters gehört…

Farin Urlaub: Stimmt, aber nicht nur Foo Fighters, auch Pries und ähm, was war noch sehr viel? Also es sind so einig Bands, Weezer natürlich.“

Also Foo Fighters hört man direkt. Sorry, aber an die dachte ich zumindest zuerst, als ich vorhin im Auto schon wieder dein Album hören musste.

Farin Urlaub: (kuckt böse, lacht dann) Das tut mir sehr leid. Naja, die Parallelen sind ja auch irgendwie nicht von der Hand zuweisen: Kommt von einer Band, macht noch ne andere, zwei Solo-CDs… Was ich tatsächlich mag bei den Foo Fighters: Ich trau mich jetzt seit diesem Album auch Stücke zu schreiben, die eigentlich nicht funktionieren. Einfach, weil sie nicht die herkömmlichen Songstrukturen haben. Und das machen die Foo Fighters auch öfter, das finde ich ganz geil.

…Und halt vom Sound her.

Farin Urlaub: Ja, der hat eine geilere Stimme als ich. Er kann halt brüllen, das kann ich immer noch nicht so richtig. Also kann ich auch, aber dann bin ich halt heiser.

Da sagst du was. Ich finde, dein Gesang ist sehr viel besser geworden, ohne jetzt hier Komplimente machen zu wollen.

Farin Urlaub: Der hat sich aber schon bei der vorletzten Ärzte-Tour total gebessert. Da habe ich selbst gemerkt, dass ich jetzt anfange zu singen. Ernsthaft. (lacht) Weiß ich jetzt auch nicht, wie das kam. Ich meine diese Dezember Tour vor anderthalb Jahren.

Hast du Gesangsunterricht genommen?

Farin Urlaub: Ich hatte ja mal vor vielen Jahren Gesangsunterricht. Da ging es aber eher darum, dass ich immer nach zwei Konzerten heiser war. Und da habe ich gelernt, wie ich halt nicht heiser werde. Aber so richtig gut singen… Ich hab mich nie getraut, so totalen Ausdruck reinzulegen. Es gibt ein paar Ausnahmen, aber so grundsätzlich war ich immer schüchtern.

Schüchtern, ausgerechnet du? Jetzt hör aber mal auf.

Farin Urlaub: Ja, ja, ausgerechnet ich. Ich weiß. Aber nach dieser Dezember-Tour, war alles was ich danach eingesungen habe so: Uaaaaahhhh!

Herr Urlaub, bleiben Sie bitte ernst.

Farin Urlaub: Man darf doch auch lügen in Interviews oder nicht? (lacht)

Das kannst du bei der Konkurrenz machen. Zurück zum neuen Album, das ist verglichen mit dem ersten auch ziemlich ernst geworden? In vergangenen Interviews hast du noch betont, über ernste Dinge nicht singen zu wollen. Woher der Sinneswandel?

Farin Urlaub: Ja, ich darf doch auch mal älter werden oder? Jetzt gibt’s halt ernste Sachen wie Selbstmord, Tod und so. 

Wie kamst du denn auf die Idee, die charmanten Bläser der The Busters in den Hintergrund der Stücke zupacken?

Farin Urlaub: Ja, das war natürlich eine intellektuelle Vorgehensweise. (alle lachen) Ich wollte, dass die in der Band mehr tun, ich wollte die Keyboards vermeiden. Ich wollte aber auch ungewöhnliche, ja was weiß ich Soundcollagen oder Klangstrukturen, das klingt so langweilig, aber ich wollte, das es anders klingt. Und dann das erste Mal – also die waren zwei Mal bei mir für ein paar Tage. Beim ersten Mal haben sie halt die normalen Bläsersätze gespielt, was man halt kennt.

Dann hatte ich das Album fertig aufgenommen, hatte die Sängerinnen mal da, um bei ein paar Stücken noch Chöre drauf zu machen. Und dann gab es noch vier oder fünf Stücke, wo ich die Bläser gebeten habe, noch mal zu kommen. Da haben sie dann untypische Sachen gespielt und ich finde das funktioniert total. Man hätte das auch mit extremen Gitarrensounds machen können, aber das hätte man niemals live umsetzen können.

Und so haben wir halt einen Vorteil, wie zum Beispiel am Schluss von „Immer noch“. Für das, was die da spielen, dafür würde niemand extra Bläser auf die Bühne holen. Da sind im Hintergrund irgendwelche komischen Flächen die die Harmonien noch mal verbreitern. Da die, dass im Studio gemacht haben und dann sowieso hier rumhängen, können sie sich auch ihr Essen verdienen. Sie spielen viel mit, das ist ganz geil. Das macht mir Spaß. Und in der Richtung wird noch viel mehr passieren, auf einem nächsten Album, wenn ich denn nicht vorher die Band auflöse. (alle lachen)

Interessieren dich überhaupt noch Plattenkritiken? Wie zum Beispiel: „…nicht so gut wie Die Ärzte, aber er erleichtert den Fans die Wartezeit auf das nächste Ärzte-Album…“ oder „…der Berufsjugendliche…“, „…Dusche…lustig wie immer…“ etc.

Farin Urlaub: Ganz ehrlich? Klingt jetzt superarrogant, aber da kann ich so was von drüber stehen. Was mich wirklich getroffen hätte, wenn das Album sich schlecht verkauft hätte und die Leute, die es gekauft haben, dann geschrieben hätten: „Ist echt scheiße.“ Aber, das Gegenteil war der Fall. Also es hat sich überraschend viel verkauft und verkauft sich immer noch – und die Zuschriften, die ich kriege, sind halt auch gut. Teilweise sagen Leute: „Du hast in meine Seele gekuckt.“ Und das ist jetzt tatsächlich anders als wenn Die Ärzte solche Texte schreiben, das berührt die Leute offenbar viel mehr. Das hat mich auch selbst beim Singen und beim Schreiben mehr berührt und das finde ich sehr schön.

Also, du siehst das teilweise auch. Bei manchen Stücken haben die Leute echt Tränen in den Augen. Das ist schon schön. Das heißt jetzt nicht: Komm zu Farin Urlaub und heul dich mal so richtig aus. (lacht) So soll’s nie werden! Aber ich finde so etwas wichtiger, als wenn ich die Erwartungen eines Kritikers nicht erfülle. Die sind oft nicht so flexibel. Die haben sich mit dem ersten Album abgefunden, jetzt kommt das Zweite und ich wage es ganz anders zu sein. Das kann ja nur scheiße sein.

Der Song „Unsichtbar“ fällt vom Sound her allerdings ein bisschen aus dem Rahmen.

Farin Urlaub: Ja, finde ich auch. Bin ich tatsächlich auch nicht so glücklich mit. Das einzige Stück auf dem Album, wo ich mit dem Mix nicht richtig glücklich bin. Das habe ich auch drei Mal aufgenommen, weil ich bei den Aufnahmen auch so… das hat nicht 100%ig hingepasst. Das ist ein Nachteil, wenn man ein Stück mal live gespielt hat. Tatsächlich. Sowohl du als Zuhörer, als auch ich als Musiker.

Ich habe immer diesen Live-Sound im Ohr gehabt und konnte den aber alleine im Studio nicht imitieren. Dazu muss ich ja echt alles gleichzeitig spielen. Aber es klingt auch live, wir spielen es heute Abend, es klingt wieder so, wie es eigentlich klingen sollte. War ein Fehler. Mache ich wahrscheinlich nicht noch mal, dass ich ein Stück erst ein Jahr lang live spiele und dann versuche aufzunehmen. Ich mag es aber, wenn man Stücke entdecken kann.

Nach welchen Kriterien entscheidest du, welcher Song ein Die Ärzte-Song und welcher ein Solo-Song wird?

Farin Urlaub: Geschmack. Aber ich weiß es schon von vorn herein. Also wenn das Stück quasi da ist, dann weiß ich schon: das ist für Die Ärzte – das ist für Solo. Da redet mir auch keiner rein. Ich hab einen Fehler gemacht, „Die Instrumente des Orchesters“ hätte ich super gerne mit dem Racing Team gespielt, muss ich echt sagen. Aber da war noch nicht abzusehen, dass ich mal ein Soloalbum mache. Das ist wirklich das einzige Stück, wo ich sage: Fuck.

Leihen ist auch nicht drin?

Farin Urlaub: Nee, da gibt es eine ganz strickte Trennung. Das geht nicht. Wenn ich damit anfange, würden die Leute wirklich irgendwann anfangen mit „Ärzte-Ärzte“-Rufen und das will ich gar nicht. Gestern gab es einen einzigen Zwischenruf, den ich gehört habe.

Bisher musstest du eher von dir als Person erzählen als von deinem neuen Album. Das ist schade.

Farin Urlaub: Es gab schon ein paar, aber die waren dann halt in irgendeiner Stadtzeitung in Bremen oder so was. Aber das ist halt jetzt der Journalismus. Das ist mir auch erst hinterher aufgefallen. Offenbar war ich für die Leute als Promi interessant und nicht dadurch, dass ich ein zweites Soloalbum gemacht habe. Leiter wollten sie mir eben so Promi-Fragen stellen. Ich fand es ehrlich gesagt auch merkwürdig. Das Galore-Interview hat mir schon Spaß gemacht, auch das in der Berliner Zeitung. Das waren auch sehr ähnliche Themen. Einige Interviews in Musikmagazinen fand ich allerdings völlig überflüssig, dafür hätte ich mich nicht mit denen treffen müssen. War ein bisschen albern.

Und gerade in Musikmagazinen erwartet man doch Album-bezogene Fragen.

Farin Urlaub: Ja, aber ich glaube wirklich, dass die davon ausgegangen sind, dass es halt sowieso keinen interessiert. Und wenn, dann nur dieser Ärzte-Zusammenhang. Andererseits wissen sie aber, wenn auf dem Titel Farin Urlaub steht, verkaufen sie mehr Zeitschriften. Deswegen müssen sie mich irgendwie drin haben.

Wirklich? Die brauchen dein Gesicht?

Farin Urlaub: Geil was? Genau! (lacht) Also das ist jetzt keine Arroganz oder Einbildung von mir. Es geht ja tatsächlich immer nur um Zahlen. Ich hab mich auch gewundert, wer teilweise ein Interview mit mir machen wollte.

Zurück zu den Konzerten. Macht dir dein Publikum nicht manchmal Angst, wenn die Sprechchöre ausufern. Denkst du nicht auch mal: Ups, die würden jetzt alles mitmachen?

Farin Urlaub: Nee, im Gegenteil. Ich finde, man muss das benutzen, um den Leuten selber klar zu machen, was sie da gerade tun. Damit es nicht wieder so anfängt und sie empfänglich sind für Leute, die das ausnutzen.

Es gab schon so einige Momente, die ich bedenklich fand.

Farin Urlaub: Ja, in Dresden! Die zweite Dresden-Show, da hab ich irgendwie so eine Frage gestellt und die haben mit „Ja!“ geantwortet. Da hab ich gesagt: „Das heißt nicht: Ja!, das heißt: „Sir, ja Sir!“. Da haben dann wirklich zweitausend Leute aus einem Mund: „Sir, ja Sir!“ Da hat sich die Band echt erschrocken und ich auch. Das war echt militärisch und ein wenig unheimlich.

Ja eben. Bei einem Die Ärzte-Konzert hier in Bremen hast du das Publikum den rechten Arm heben lassen, weil unweit die Onkelz gespielt haben. Das war schon sehr grenzwertig.

Farin Urlaub: Hast du mal „Masse und Macht“ gelesen, von Elias Canetti? Der Grund, warum man sich bei uns so sorglos gehen lassen kann, meiner Meinung nach ist, dass wir halt wirklich klar gemacht haben, wofür wir stehen oder wofür wir nicht stehen oder wogegen wir stehen. Und deswegen kannst du ruhig einen Teil deiner Vorsicht bei uns fallen lassen, aber alles darfst du natürlich nie fallen lassen. Dazu kannst du das Publikum eigentlich bringen, wenn du immer unmöglichere Sachen forderst. Jetzt gestern in Hamburg: Da hab ich sie natürlich eine La-Ola machen lassen, ganz normal. Dann die Geräusch-La-Ola und dann die Geräusch-La-Ola rückwärts und alle machen mit. Das war schon echt lustig.

Arnim vom den Beatseaks konnte das toppen. Er hat das Publikum gefragt: „Habt ihr ’nen Stock im Arsch?“ Tausend Leute haben daraufhin ohne nachzudenken Ja!’ gebrüllt.

Farin Urlaub: Echt? Geil. (lacht) Ja, Hauptsache man brüllt. Das erklärt dieses Buch halt ganz gut.

Wenn du mal so zurückschaust, wären wir jemals in den Genuss deiner Soloalben gekommen, wenn Bela B. dich in dem MTV-Interview 1999 quasi nicht unter Zugzwang gesetzt hätte?

Farin Urlaub: Wahrscheinlich nicht. Aber… sicher bin ich nicht. Es hat mich schon ziemlich lange frustriert, dass ich so viele Stücke habe, die einfach nie rauskommen. Das suche ich mir ja gar nicht mal so sehr aus. Die fallen mir halt einfach ein. Das muss irgendwie raus. Und wenn ich dann irgendwann so da sitze… Vielleicht hätte ich dann irgendwann so eine 5-fach Box gemacht. „The Unreleased Tapes“.

Nein! Und so ist es mir schon lieber. Außerdem toure ich halt unheimlich gerne und Die Ärzte touren nicht genug für meinen Geschmack. Und jetzt muss ich auch schon sagen, dass das Racing Team für meinen Geschmack nicht genug tourt, hehe. Das liegt aber auch an den Zuschauerzahlen. Wir können nicht mehr spielen. Wenn wir jetzt die Tour vorbei haben, dann haben uns auch alle gesehen, die uns sehen wollten.

Naja, aber viele kommen doch auch gerne mal öfter.

Farin Urlaub: Gar nicht. Ich war wirklich überrascht. Also ich bin auch eigentlich davon ausgegangen. Ich kenn das ja von den Ärzten. Ich hab gestern nach dem dritten Hamburg-Tag mal gefragt: Wer war bei der zweiten und ersten Show schon da? Da haben sich so 25 Leute gemeldet. Ups, ich hab halt wie immer mit der Hälfte gerechnet. Und das fand ich schon ganz geil, also oder vielleicht auch nicht.

Bei den Ärzten kommt es ja auch auf dieses ganze Drumherum an, nicht nur auf die Musik. Mittlerweile gibt es doch sicher auch viele, die wirklich nur Fan vom Farin Urlaub Racing Team sind.

Farin Urlaub: Ja, sind schon ein paar. Das ist lustig. Also ich gehe eigentlich davon aus, dass es fünf Jahre dauern wird, bis die Leute uns ernst nehmen. Also gegebenenfalls verlang ich das. Davon haben wir jetzt mal gerade drei um. Das dauert noch, aber ich bleib dabei. Auf jeden Fall macht es mir echt Spaß.

Das klingt gut. Und jetzt gibt es erst mal ein Livealbum?

Farin Urlaub: Ja! Das haben wir relativ spontan entschlossen. Also so kurz vor der Tour haben wir darüber geredet. Klingt natürlich erst mal nach einem totalen Rip-Off, es gibt ja erst zwei Alben und dann jetzt schon ein Livealbum…

Live klingen die Stücke halt einfach anders. Die sind ganz anders arrangiert. Jetzt beim zweiten Album nicht mehr so extrem, aber alle Stücke vom ersten Album haben wir echt umgekrempelt. Das ist der eine Grund, dann spielen wir viele B-Seiten und auch diesen Hidden-Track, den man ja noch nie gehört hat. Das Livealbum ist einfach ein ganz schönes Dokument. Mehr soll es auch nicht sein. Es kommt deswegen auch nicht zum Weihnachtsgeschäft raus, sondern einfach so. Wird irgendwann nächstes Frühjahr erscheinen. Ich habe auch noch keinen Titel. Das nächste Studioalbum werde ich in jedem Fall mit der Band aufnehmen, nicht mehr alleine. Wir sind jetzt auch richtig eingespielt.

Das fällt auf, deine Band ist nicht mehr so nervös und es groovt.

Farin Urlaub: Ja, das ist jetzt alles gar nicht mehr. Gestern haben die mich zum ersten Mal so richtig an die Wand gequatscht. Aber so richtig! Da dachte ich nur so: Ok, jetzt kommt bitte das nächste Lied. (alle lachen) Das ist geil. Und trotzdem will ich natürlich nicht, dass es so eine Kopie von dieser Ärzte-Show wird. Also wir spielen auch fünf, sechs Stücke ohne jede Ansage hintereinander weg und die Leute drehen trotzdem durch, das ist ganz geil. Und wir haben auch einfach Spaß.

Du hast ein Lied mit Olli Schulz und seinem Hund Marie aufgenommen oder zumindest den Hintergrundgesang beigesteuert? 

Farin Urlaub: Ja nee, also Olli Schulz hat ein Lied gehabt, das war schon fertig und ich hab wirklich nur so „Lalala“ gemacht – man hört es kaum.

Ich dachte, Hamburger Schule ist nicht so dein Ding?

Farin Urlaub: Ist er Hamburger Schule?

Meinen Informationen nach schon.

Farin Urlaub: Er hängt mit den Leuten rum, das stimmt und er verteidigt sie auch immer vor mir, weil ich immer sage: Uaaah nee… Er hat mir letztes Mal auch ganz viele CDs mitgegeben. Hab ich kurz rein gehört: Nee…

Ist der Song denn schon erschienen?

Farin Urlaub: Das „beige Album“? Also ich glaube nicht. Ich hab so eine Vorabgeschichte gekriegt, aber ich will, dass er mir noch die richtige zuschickt. Gestern war er beim Konzert, ich konnte ihn nur nicht sehen, weil ich danach ziemlich schnell abgehauen bin.

Hast du noch was Spannendes zu erzählen?

Farin Urlaub: Nö also, was Spannendes zu erzählen? Icke? Also was soll ich sagen? Es macht wirklich Spaß. Also wirklich.

Und wie kamst du darauf, die Sonne so negativ zu belegen?

Farin Urlaub: Gerade ich. Das war wahnsinniger Egoismus, das musste sein.

Das musste sein?

Farin Urlaub: Musste sein.

Na gut: scheiß Sonne. (alle lachen)

Dann bis gleich und vielen Dank für das Interview.

Farin Urlaub: Ich Danke ebenso, hat mir echt Spaß gemacht.“

[Foto: Olaf Heine]

Website: www.farin-urlaub.de

Kurzgeschichte

Schreibblockade oder Schusswechsel mit Nuckel

Freiburg hatte ich an einem Tag durch. Das Schwabentor hatte mir gefallen und die kopfsteingepflasterten Gassen. Ich schaute gerne zu, wie die Kinder kleine Holzboote – die Bächle Boote, die schmalen Wasserläufe der Altstadt entlang fahren ließen.

Mein Hotelzimmer war gemütlich eingerichtet. Ein wenig urig mit schönen alten Holzmöbeln, ein kleiner Schreibtisch direkt am Fenster und mit Blick in den entfernt liegenden Schwarzwald. Ich wäre gut beraten, zu schreiben, die Deadline rückte näher. Nur wollte mir einfach nichts brauchbares einfallen. Bis auf ein paar Krickelein blieb das Blatt leer. Um meinen Kopf zu lüften fuhr ich ein bißchen herum, raus aus der Innenstadt. In Denzlingen hielt ich an einem Restaurant, der Biergarten sah nett aus.

Das Restaurant war ein schönes altes Fabrikgebäude, weiß getüncht und mit großen Fenstern. Im inneren hatte man den vergangenen Industriecharme gelassen. Ab und an schienen hier auch Bands zu spielen. Der Laden gefiel mir.

Ich setze mich draußen an einen 4-er Tisch, der allein unter einer schönen alten Kastanie stand. Mit der Spitze meines rechten Schuhs kratzte ich gelangweilt und ideenlos eine Linie in den staubigen Kiesboden. Vor mir stand ein Glas Weinschorle und außer diese zu trinken, hatte ich heute keine weiteren Ziele. Mein Notizbuch döste träge in meinem Rucksack. An den anderen Tischchen saßen Grüppchen, die sich angeregt unterhielten und die mittelalte Bedienung in badischer Tracht tänzelte zwischen den Tischen umher und brachte stetig neue Getränke.

„Ist hier noch frei?“, fragte eine tiefe Männerstimme schräg hinter mir. Der Typ stellte sich als Nuckel vor und kniff die Augen zusammen, um mich gegen die Sonne zu sehen. Die Falten zwischen Nase und Mund erzählten von einem bewegten Leben. Er hatte was von einem Cowboy. Ich ließ ihn Platze nehmen.

Er saß kaum, da hob er zu einem wehmütigen Monolog über seine Dobermann-Hündin an: „In meinen Händen wird jedes Tier zur Waffe, haben die gesagt. Die Wichser haben mir verboten Hunde zu halten.“ Mit ‚die‘ und ‚Wichser‘ meinte er wohl ein paar Polizeibeamte. Er redete schnell. Mit dem Zeigefinger wischte er unter seiner Nase entlang als hätte er Sorge, man könnte noch Spuren einer kurz vorher konsumierten Substanz sehen und fummelte aus einem seiner abgewetzten Cowboystiefel eine Packung Streichhölzer.

Noch einmal wischte er unter der Nase lang und nippte an der Limo, die er sich zwischenzeitlich bei der Bedienung bestellt hatte. Die Zigarette zauberte er aus dem anderen Stiefel und zündete sie an. Was für ein Freak und was für ein bescheuerter Name. Mein Blick fiel auf seine Unterarme und die Narben, die das hochgekrempelte, blau-weiße Flanellhemd freigab. Nuckel bemerkte es und fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, wie es sich anfühlt, wenn eine Pistolenkugel in den Körper eindringt.

Ich trank einen Schluck meiner Schorle und drehte das Glas angespannt auf dem Tisch hin und her. Wollte ich mir so etwas überhaupt vorstellen? Nein, eher nicht. Er saß am anderen Tischende und redete nicht unbedingt leise und immer noch schnell. Dennoch schien keiner der Gäste an den Nachbartischen seinem Monolog zu folgen. „Äh, nein. Ich kann mir das nicht vorstellen,“ erwiderte ich. Er winkte ab. Im ersten Moment täte es gar nicht weh, aber es würde unangenehm nach verbrannter Haut riechen. Er erzählte davon, als wäre es das Normalste von der Welt, angeschossen zu werden.

Mit dem Zeige- und Mittelfinger deutete er auf die zwei großen Narben. Wischte sich unter der Nase lang und zeigte mir eine weitere an der rechten Schulter. All die anderen Schrammen kämen von Messerstechereien, prahlte er. „Ein bewegtes Leben,“ fiel es eher verwirrt als beeindruckt aus mir heraus. Unbeeindruckt meines unqualifizierten Kommentars sprach Nuckel weiter. Vielleicht hatte es ihn auch angeregt, mehr seiner Biographie preiszugeben. Ich bestellte mir bei der Kellnerin noch eine Weinschorle. Sie schaute ein paar mal zwischen und ungleichen Vögeln hin und her und dachte sich sicherlich ihren Teil.

Nuckel nippte noch einmal an seiner Limo und erzählte weiter. Bevor er sich im Scheinwerferlicht der Ordnungshüter etwas bedeckter halten musste, war er beruflich in Köln unterwegs. Als Zuhälter hatte er dort gejobbt und ganz gut Geld verdient. Den Spitznamen hatte er, weil… Nein. Ich wollte es nicht wissen. Ich hatte Lust wieder in mein Hotelzimmer zu fahren, aber irgendwie faszinierte mich diese zwielichtige Gestalt in Karohemd und Cowboystiefeln. Ich fragte mich, warum er mir das alles erzählte und merkte, wie er mich plötzlich mit einem eiskalten Blick anschaute.

Mit tiefer Stimme, die fast drohend klang, sagte er: „Ich muss los.“ Dann stand er auf, schnippte seinen Zigarettenstummel auf den Boden, um ihn mit der rechten Stiefelspitze in den Kiesboden zu mahlen. Mit der linken Hand wischte er sich unter der Nase lang, dann trat er ab. Ich stellte mir vor, wie er sich auf seinen Gaul schwang und in den Sonnenuntergang ritt, bereit für die nächste Schiesserei. In Wirklichkeit knatterte er mit einem schäbigen, metallicgrünen Golf vom Parkplatz. Ich bezahlte meine Rechnung und machte mich auf den Weg in mein Hotel, ich musste unbedingt etwas aufschreiben.

Interview

Im Gespräch mit Schauspielerin Suzanne Bernert

In Indien wird sie auf der Straße erkannt, bei uns ist die gebürtige Detmolderin, die im Allgäu aufwuchs, noch unbekannt. Seit 17 Jahren lebt Suzanne Bernert in Indien und spielte seitdem in diversen TV Shows und Filmen mit. Unter anderem konnte man sie als Sonia Gandhi in dem indischen Politdrama „The Accidental Prime Minister“ sehen.

Sie sind als deutsche Schauspielerin nach Indien ausgewandert, wie kam es zu dieser Entscheidung?

Suzanne Bernert: Ich war mit meinem Engagement am Theater in Neu-Ulm fertig und war in Dubai. Dort habe ich eine Ausschreibung zu einem Online-Casting gesehen. Ich habe mich  gemeldet, den Regisseur getroffen, eine Rolle bekommen, den Film gedreht und dadurch viele Leute kennengelernt. Das Land, die Sprache und die Menschen, ich habe mich einfach gleich wohl gefühlt.

Ein Freund von mir ist in der Produktion, kümmert sich darum, wo und wann gedreht wird, organisiert die Plätze und teilweise auch die Schauspieler. Der erzählte mir, dass ein Regisseur, der für seinen Film jemanden für eine kleine Rolle sucht. Ich dachte: Ja, das ist toll für mein Showreel. Jetzt habe ich schon den Film und dann noch eine kleine Rolle und dann gehe ich zurück nach Berlin. So der Plan. Dann habe ich den Regisseur kennengelernt, wir haben uns gut verstanden. Durch ihn habe ich viele Schauspieler aus Film und Fernsehen kennengelernt.

Im Dezember 2004 war ich gerade drei Monate wieder in Deutschland, da rief er mich an und sagte, dass er eine Rolle in seiner Fernsehshow für mich habe, und er hätte mich gerne dabei. So wurde ich die erste ausländische Schwiegertochter im indischen Fernsehen, in einer Hit-Show wie die Lindenstraße. Meine Wohnung in Berlin habe ich noch ziemlich lange behalten und erst Ende 2005 aufgelöst, als ich sicher war, dass ich bleibe. 2006 kam dann eine riesen Show, die war ein Superhit. In die bin ich dann reingerutscht und habe auch meinen ersten Film gedreht.

Eine Schauspielkarriere in Indien war also gar nicht von vornherein geplant?

Suzanne Bernert: Nein, gar nicht. Man hat ja so gewisse Ideen. Ich habe vorher mal in Südkorea und Taiwan gelebt, aber Indien… Ich hatte immer so ein Bauchgefühl: Wenn ich jemals nach Indien gehe, wird sich mein Leben ändern. Noch heute erinnern mich Freunde daran, dass ich das gesagt habe.

Wie sieht die indische Film- und Fernsehlandschaft aus? In Deutschland denkt man wahrscheinlich erstmal an Bollywood-Filme.

Suzanne Bernert: Ja. Doch das muss man fast schon als Nische bezeichnen. Bollywood ist sehr stereotypisch, da sind einfach bestimmte Bausätze wie Tanz, Musik und eine bestimmte Liebesgeschichte oder Comedy dabei. Dazu dreht man in einer tollen Location. Das sind so diese stereotype Geschichten, aber es gibt sehr viel mehr in Indien. Es gibt zum Beispiel die verschiedenen Sprachen, in denen gedreht wird. Das nennt sich ’Regional Cinema’. Du hast Bengali, das ist eine ganz andere Ecke als Bollywood. Da kommt zum Beispiel Satyajit Ray her. Der war ein ganz berühmter Filmemacher und der hat damals ganz tolle Schwarzweißfilme gemacht. Aus dieser Ecke kommen ganz viele Kunstfilme. Die machen eine ganz andere Art Kino.

Hier in Mumbai und im gesamten Bundesland Maharashtra wird Marathi gesprochen und eben auch in der Sprache gedreht. Hier werden eher kleinere Filme gemacht, aber man hat hier immer das Gefühl, man dreht mit Familie. Es ist alles sehr eng, immer bringt jemand Essen mit. Es ist eine ganz andere Art und Weise und eben eine sehr schöne Art zu drehen. Weniger Geld, aber dafür sehr viel andere Dinge, wie zum Beispiel große Popularität.

Ich habe 2008 mal einen Film gemacht, für den werde ich immer noch auf der Straße erkannt. Hier in Maharashtra haben sie Lavani, ein ganz anderer Tanz. Man kann durch alle Bundesländer gehen und in fast jeder Landessprache gibt es zumindest Fernsehen, oft auch Filmeund alle haben durch die Sprache und durch die etwas andere Kultur, ihre bestimmten Stile. Quasi immer ein anderes Gewürz sozusagen.

Besitzt Indien eine Theaterkultur?

Suzanne Bernert: Oh ja, ich habe meinen Mann im Theater kennengelernt. Hier in Mumbai gibt es zum Beispiel das Prithvi Theater. Es wurde 1978 und die haben hier mit vier Gruppen angefangen, in einer war zum Beispiel Omi Puri, der später internationaler Schauspieler geworden ist. Es ist ein sehr schönes und kleines Theater. Mit der Theaterszene wird es allerdings immer schwieriger. Damals war es schon schwer Sponsoren zubekommen und jetzt ist das Ganze in den Händen von großen Firmen, die dann gern nur mit Stars arbeiten. So, wie man das kennt, dass Leute zusammen kommen und gemeinsam Theater machen, wird immer schwieriger.

Ohne Sponsoren können sich viele Theaterleute es sich nicht leisten ein Stück zu produzieren. Ich habe keine zwei bis fünftausend Euro, die ich mal eben in eine Produktion investieren kann, bei Ticketpreisen zwischen zwei und fünf Euro. Das rentiert sich nicht. Das Theater ist so teuer, nicht die Schauspieleroder das Bühnenbild. Es ist der Ort, an dem ich auftreten möchte, dazu kommt, dass man dort dann nicht proben kann. Das ist eine Sache, die ich sowieso nicht verstehe. Man muss sich etwas anderes für die Proben anmieten, in das entsprechende Theater kommt man nur an dem Abend der Vorstellung.

Das ist eigentlich wie Tournee-Theater. Man kann nicht richtig vor Ort arbeiten, so wie ich das zum Beispiel noch aus Ulm gewohnt bin, wo wir im Theater geprobt haben, Sachen absprechen konnten. Hier ist vieles spontaner und improvisiert. Das merkt das Publikum aber nicht.

Suzanne Bernert – Wie eine deutsche Schauspielerin in Indien erfolgreich wurde

Suzanne Bernert

Wie laufen Castings in Indien ab? Gibt es eher Online-Castings?

Suzanne Bernert: Ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten, da ich in Deutschland nie an einem Casting teilgenommen habe. Meine ganze Karriere hat sich bisher hier abgespielt. Aber Covid hat auf jeden Fall in Richtung Onlinecastings gedrückt. Vorher war es so, dass man angerufen und zu einem Vorsprechen eingeladen wurde. Was man hier nicht macht, man bekommt den Text, den man vorsprechen soll nicht vorab.

Bei mir hat mein Manager sich dahinter gehängt. Ich musste das Ganze ja in Hindi sprechen und es war für mich schon gut, den Text dann auch vorher zu kennen. Vor Ort ist es laut, du hast ganz viele Leute um dich rum und dann sollst du den Text in einer fremden Sprache sprechen, das ist schwer. Ich persönlich finde, dass Onlinecasting einen Vorteil hat.

Ich glaube viele haben gemerkt, dass sie sich damit Zeit, Energie und Geld sparen, wenn sie das die Schauspieler selber machen lassen. 2018 gab es auf jeden Fall einen Ruck zu mehr online. Mein Mann und ich sind es mittlerweile gewöhnt, die Sachen selber zu machen. Und beim Onlinecasting kriegt man natürlich auch vorher den Text. Man kann sich Zeit lassen, ausprobieren, die Passagen durchgehen, in Ruhe drehen und das Make-up sitzt.

Arbeitet man mit einem Agenten bzw. einer Schauspielagentur zusammen?

Suzanne Bernert: Das ist ein ziemlich unorganisiertes Feld. Es gibt viele Privatleute die casten, es gibt Agenturen die casten, es gibt Manager, die auf einen aufpassen. Es gibt ein riesen Casting-Buch, in dem alle möglichen Adressen drin sind, von Regisseuren, Produzenten etc. Da habe ich mir 2010 einen Manager rausgesucht.

Ich habe ganz viele angeschrieben und er war der, der sich zurückgemeldet hat. Er verhandelt aber mehr das Geld und passt auf, wie man dich am Set behandelt, also eher noch old-fashioned ist. Früher hieß das auch Sekretär und nicht Manager. Er ist halt keiner, der jetzt losgeht und Arbeit für einen sucht. Ich werde direkt von Leuten angerufen, angeschrieben, angesprochen. Die Leute kommen auf einen zu, wenn sie eine bestimmte Rolle haben, in die man reinpassen würde.

Haben Sie Tipps für junge Kolleg:innen, die in Indien Fuß fassen wollen?

Suzanne Bernert: Am besten sollte man schon vorher ein bisschen Hindi sprechen. Die Rollen sind halt so angelegt, dass man oft auch in der Sprache drehen muss. Es gibt mittlerweile sehr viel online. Es gibt Agenturen, die auf Ausländer spezialisiert sind, darüber bekommt man normalerweise aber nur kleinere Rollen. Es hat sich so viel geändert. Auf jeden Fall muss man sich vorher informieren, wie das zum Beispiel mit der Arbeitserlaubnis aussieht. Zu meiner Zeit hat man einen Sponsor gebraucht, der für einen unterschreibt, damit man ein Visum bekommt. Im Großen und Ganzen muss man offen sein für die Möglichkeiten und darf sich nicht im Preis drücken lassen. 

Kann man als Schauspieler:in von seiner Arbeit leben?

Suzanne Bernert: Man bekommt viel weniger als in Deutschland, aber man lebt hier ja auch ganz anders und braucht weniger Geld. Ehrlich gesagt, machst du eine Menge Kohle. Du kannst an einem Tag so viel verdienen, wie andere Leute in einem halben Jahr nicht verdienen. Anders als in Deutschland, aber ja, leben kann man davon.

Wie sieht ein typischer Dreh aus? Gibt es einen Unterschied zu Sets und Drehs in Deutschland?

Suzanne Bernert: Ich kann tolle und verrückte Geschichten über ganz vieles erzählen, was schon schief gelaufen ist. Sicher ist, dass die Leute sehr warmherzig sind. Wenn man zum Beispiel in einer Fernsehshow arbeitet, wird das Team irgendwann wie eine große Familie. Mein Tipp: Mach die Friseuse und den Make-up-Menschen zu deinen Freunden, denn die passen auf dich und deine Sachen auf. Ein normaler Tag am Set: Du kommst morgens an und kriegst erstmal einen Tee in die Hand gedrückt, dann gehst du in deinen Wagen, dann kommen Make-up und Haare, Kostüm und Skript.

Das Skript ist so eine Sache. Im Devnagiri (Hindi Alphabet) gibt es verschiedene ’T’s, was man bei Druckbuchstaben nicht erkennt. Da hilft mir zum Glück mein Mann. Drehtage sind hier Minimum 12 Stunden und wenn eine Show neu ist und man hat eine der Hauptrollen, wirbelt man von einer Szene zur anderen. Es ist dann oft sehr schwierig, etwas auszuprobieren und umzusetzen. Beim Film gibt es nur ein oder zwei Szenen am Tag. Film und Werbung sind eher ein gehobener Standard, tägliches Fernsehen ist wieder etwas anderes.

Kehren Sie irgendwann zurück nach Deutschland?

Suzanne Bernert: Zurückkehren wohl eher nicht, da arbeiten schon mal gerne. Ich würde gerne mal in meiner eigenen Sprache drehen.

Website: www.crew-united.com/de/Suzanne-Bernert_477293.html

[Fotos: Shashank Bhalerao]

Interview

Im Gespräch mit Volker Helfrich

Schauspieler Volker Helfrich spielte in Deutschland in verschiedenen TV- und Teatherproduktionen mit. Der Erfolg wollte sich nicht einstellen und da er sich schon eine Zeitlang für China interessierte, packte er seine Sachen und ging. Er lernte Mandarin in Wort und Schrift und  erfüllte sich seien Schauspieltraum im Reich der Mitte. Seit 2020 lebt und arbeitet Volker Helfrich wieder in Deutschland.

Sie sind 2006 nach China gegangen und haben dort in vielen chinesischen Film- und Fernsehproduktionen mitgespielt. Wie kam es dazu?

Volker Helfrich: Bevor ich nach China ging, habe ich Boulevard-Theater gespielt und vielleicht noch die Hälfte mit Schauspielerei verdient. Um über die Runden zu kommen, habe ich Bühnenbau gemacht und Großveranstaltungen auf- und abgebaut. Durch einen alten Freund bin ich dann ins Modelgeschäft geraten. Chinesisch, diese Schrift hat mich schon als Jugendlicher fasziniert und war für mich das Fremdeste, was man sich vorstellen konnte. Damals war China auch noch ein absolutes Land des Unbekannten und ich hatte wohl auch immer eine romantische Vorstellung davon, mich im Fremden zurechtzufinden.

Als ich 2006 nach China kam, fing ich in Peking in einem Fotostudio an. Ich hatte mir aber insgeheim vorgenommen, so gut Chinesisch zu lernen, dass ich als Schauspieler weiterarbeiten konnte. Das war im Endeffekt die beste Idee, die ich je hatte. Ich bekam damals für ein Jahr eine Art Studentenvisum und recht schnell die erste Rolle in einer Fernsehserie. Das war noch nichts allzu Großes, aber es waren doch mehrer Drehtage und meine erste Erfahrung, wie dort TV-Serien gedreht werden. 

Wie sieht die chinesische Film- und Fernsehlandschaft aus? Welchen Einfluss hat die Politik?

Volker Helfrich: Anders als wir das kennen. Es gibt nur Staatsfernsehen, keine privaten Sender. Alles muss abgesegnet werden. Deswegen sind Fernsehserien in China immer abgeschlossene Erzählungen und große epische Dramen. Die ersten zehn Jahre habe ich hauptsächlich in Serien und Filmen mitgespielt, in denen die Japaner die Bösen waren. Das ist jetzt schon wieder von der Liste gestrichen, weil es politisch nicht mehr passt. Man konzentriert sich mittlerweile eher auf den Koreakrieg. Die Erinnerungskultur besteht in China aus Heldengeschichten des Bürgerkriegs und der Kommunisten und das natürlich mit allem Pathos.

Die Rollen sind oft sehr plakativ geschrieben. Das war aber für mich als Schauspieler aber eine tolle Sache, da es eine große Rollenvielfalt gibt und man relativ leicht positiv auffallen kann. Wenn man da nicht aufpasst, dann wirkt man in einer so plakativ klischeehaften Rolle natürlich einfach lächerlich. Beim Dreh ist immer ein Supervisor da, es gibt eine Vorzensur und zum Schluss eine Endabnahme. Parteimitglieder gibt es ja genug, da sind sicher immer welche zur Beaufsichtigung am Set. Das ist auch im Sinne der Produktion, um spätere Änderungen zu vermeiden. Zeitreisen seit eh und je nicht erlaubt, um die Leute nicht auf falsche Gedanken zubringen.

True Crime gibt es, da zeigen sie die Polizei im Einsatz und wie hoffnungslos es ist, sich etwas Böses auszudenken. Aber Krimis, wie wir sie kennen, gibt es nicht. Mittlerweile kommen viele Korea-Sachen raus, die natürlich auch mit der aktuellen politischen Lage zu tun haben. Die politische Seite ist etwas, was immer viel größer ist als das, was man in den Griff kriegen kann.

Wie laufen Castings in China ab? Unterscheiden sie sich von der hiesigen Vorgehensweisen?

Volker Helfrich: Auch in Deutschland gibt es mittlerweile viele E-Castings, auch E-Live-Castings. Die finde ich super, also wenn man wirklich mit jemandem interagiert. In China kann man von Glück reden, wenn es mal ein ordentliches Casting gibt, wo geschaut wird, ob jemand mit der Rolle umgehen kann. Wo mit einem Schauspieler und einem Text vor der Kamera ausprobiert wird. Das ist leider selten. Im Grunde genommen schauen Regieassistenten, ob jemand brauchbar ist und dann geht es ums Geld und wie viel man da abzwacken kann. Man arbeitet mit Leuten, die man kennt und kann so beim nächsten Mal mehr verlangen. Als Ausländer hat man da noch einen Marktvorteil, den ich natürlich genutzt habe.

Ist es schwierig, als Schauspieler:in in China, abgesehen von der Sprache, Fuß zu fassen?

Volker Helfrich: Es gibt viele, die können so ein bisschen Chinesisch und sprechen Englisch, aber es muss passen. Was ich alles im Hintergrund vor einem Dreh mit den Leuten besprechen musste, war für mich drei Mal anstrengender als der Dreh selbst. Im Vergleich zu Deutschland hat man in China viel mehr Druck. Die Drehbücher sind ganz anders. Die vielen weißen Stellen, wo man sich mal Notizen machen kann, gibt es nicht. Oft sind die Serienbücher fast in Blocksatz geschrieben. Da muss man den Dialogtext erstmal verschiedenfarbig markieren, damit man überhaupt einen Überblick bekommt.

Ich habe immer nur Szenen gelesen, in denen meine Rolle vorkam, das komplette Ding habe ich dann von einem Kollegen lesen lassen, um zu wissen, an welcher Stelle meine Szenen vorkam. Man muss da für sich selbst ein System finden. Die Arbeitsbedingungen dort sind schon heftig. Mir hat es zum Teil gerade deswegen dann Spaß gemacht, weil ich komplett in die Arbeit eintauchen konnte. Das ist halt China und das Resultat ist aber dann oft doch sehr ansehnlich. 

„Man muss sich im Klaren sein, dass das Ganze kein Abenteuerspielplatz ist.“ – Volker Helfrich

Wie sieht es an einem chinesischen Set aus? 

Volker Helfrich: In China gibt es in jeder Provinz eigene Studiogelände. Außer moderne Dramen kann man ja vor Ort nichts drehen. Historisches muss im Studio entstehen. Eine Serie hat 30 Folgen à 50 Minuten, die in der Regel innerhalb von 100 Tagen abgedreht werden. Das ist ein enormes Pensum. Es herrscht ein militärischer Kommandostyle und es wird viel rumgebrüllt. Mir hat es auf jeden Fall geholfen, dass ich auch in Deutschland schon alle möglichen wilden Produktionssachen miterlebt hatte.

Der Druck und die Arbeitsbedingungen sind alles andere als Hollywood. Die Hotels sind teilweise superbeschissen, die hygienischen Bedingungen sind schlecht, es gibt das schlimmste Essen. Der Druck in China und die Situationen, die da auftreten können, das gibt es bei uns so nicht und trotzdem wird da durchgearbeitet und mit Problemen umgegangen. Man muss für sich Wege finden, wie man da halbwegs gesund durchkommt, kann man sagen. 

Wie ist das Miteinander unter den Schauspielern? Muss man aufpassen, mit wem man redet?

Volker Helfrich: Es ist sowieso so, dass es ein sehr oberflächliches Zusammensein ist. Man spricht nicht über Privates. Im richtigen Rahmen kann man sich auch mal kritisch äußern, so ist es nicht. Man braucht jetzt nicht versuchen meinungsbildend aktiv zu werden, aber auch in China lässt sich das soziale Netzwerk nicht komplett kontrollieren. Das hat man bei der knappen Versorgungslage durch Corona gesehen. Es ist aber auch Quatsch, da auf China zu zeigen, wenn wir gleichzeitig alle unsere Daten freiwillig großen Firmen geben. Ich habe fast 15 Jahre in China verbracht, da stellt man fest, dass die Menschen dort genauso sind wie wir hier auch. 

Werden die chinesischen Kolleg:innen an Schauspielschulen ausgebildet?

Volker Helfrich: Ja. Die sind sehr gut ausgebildet. In China kommen viele Schauspieler aus einem gesicherten Bereich. Die sind entweder beim Militär oder der Polizei als Staatsbeamte und dort dann Teil einer Künstlergruppe. Beim Dreh verdienen sie einfach über einen Agenten privates Geld. Um das Zahlen der Steuern kümmert sich dann angeblich ihr Management, die machen das natürlich nicht unbedingt. Eigentlich haben die in China im Vergleich ein super Steuerrecht. Prozentual ist es wenig, was ich an Steuern bezahlen musste, vielleicht 20 Prozent. Die finanzielle Unsauberkeit ist in China allerdings quasi ein Geschäftsmodell, da wird viel gemauschelt. 

Gibt es Schauspieleragenturen wie in Europa? 

Volker Helfrich: Nein, leider nicht. Es gibt Agenten, die halt Kontakte zu ein, zwei großen Produktionsfirmen haben und die verschachern. Die bringen einen in das Filmgeschäft und ohne die kommt man da auch nicht rein. Dadurch ist man für die ersten Jahre allerdings auch nur für wenige Produzenten verfügbar.

So ein Agent macht mit dem Schauspieler einen Vertrag, oft handelt es sich um eine Art Abtretungsvollmacht. Damit ist er dann für einen bestimmten Zeitraum zeichnungsberechtigt. Was für Verträge er abzeichnet, erfährt man nicht. Der echte Vertrag steht quasi im Hintergrund und generiert das Geld. Der Schauspielervertrag ist im Prinzip nur Schatten, der taucht auch nirgends auf. Der Schauspieler bekommt einen gewissen Anteil, aber die Summe, die wirklich umgesetzt wird, erfährt er nicht.

Kann man denn als Schauspieler von seiner Arbeit leben?

Volker Helfrich: Ja, ich konnte es und musste Gott sei Dank nichts anderes machen. Obwohl ich auch eine Zeitlang Autoshows moderiert habe. Das wurde gut bezahlt. Aber ich war froh, dass ich nur als Schauspieler arbeiten musste und Rollen oder Leute ablehnen konnte. Irgendwann war ich zum Glück auch unabhängig, denn es gibt keinen Agenten, mit dem man auf Dauer sauber arbeiten kann.

Für die Vermittlung einer Rolle habe ich meiner Agentin 20 Prozent meines Bruttolohns gezahlt. Zwei, drei Jahre später waren das 30 Prozent, die ich cash abgedrückt habe. Das ist zu viel. Ansonsten sind Schauspieler in China mittlerweile durch die Streamingdienste noch viel stärker in der Werbung und der Monetarisierung eingebunden. Das ist nicht schön, aber man kann ja im Moment froh sein, wenn man überhaupt Arbeit bekommt. 


Haben Sie einen Rat für Kolleg:innen, die den Schritt nach China wagen wollen?

Volker Helfrich: Man muss sich im Klaren sein, dass das Ganze kein Abenteuerspielplatz ist. Leider empfinden das viele so und werden gerne unter diesem Aspekt angelockt. Viele unterschreiben einen Vertrag, ohne zu wissen, worauf sie sich einlassen. Ich kann nur empfehlen, sich zu informieren, mit wem man zu tun hat. Man sollte sich mit allen, die das schon länger machen auszutauschen. Die Schauspielerei ist in China ein komplett grauer Bereich und es ist wichtig, eine gewisse Erfahrung zu haben, um zu wissen, dass in China vieles anders läuft, als man das aus Deutschland kennt.

Sie haben kürzlich eine Mini-Serie für das ZDF gedreht, wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?

Ich hatte dieses Jahr meinen ersten Drehtag wieder in Deutschland. Und ich muss sagen, ich habe doch Blut geleckt. Ich habe in China so viele Katastrophen erlebt, das war zum Lernen super. Im Moment ist es so viel angenehmer, in Deutschland zu arbeiten. Ich würde auch gerne wieder am Theater spielen, das hat mir auch in China sehr gefehlt. Ich schaue mal, was sich ergibt.

Website: www.castforward.de/members/profile/volker-helfrich

Lyrik

Sommer am See

Sandstrand am Baggersee,
Füße im Sand – eine Wespe sticht
mit glühender Nadel, ein brennender Schmerz.
Er steht vor ihr, erklärt ihr die Welt,
krault sie unterm Kinn, als wäre sie sein Schoßhündchen.
Wahrscheinlich ist sie das auch.
Die Kinder der Wildgans bestaunen das vorbei gleitende Einhornboot,
drei wild schnatternde Grazien in seinem Bauch.
Der Bademeister pfeift die pinke Badekappe zurück,
Schwimmen bis zur weiß besegelten Jolle ist tabu.
Kinder bewerfen sich mit Algen, tauchen unter,
Mütter schießen Selfies in leopardenen Badeanzügen.
Wolken ziehen im Osten auf wie Cellulite.
Die Braungebrannte im roten Bikini wendet ihr träges Fleisch,
wie ein Brathänchen im Grill.
Ein Mann steht im Wasser, Lehrer auf dem Pausenhof.
Sommer am See.