Seit gut einem Jahr arbeite ich in der Nachtschicht. Von Mitternacht bis sechs Uhr. Die Tankstelle an der Autobahnauffahrt neben einem leer stehenden Getränkemarkt mit zugenagelten Fenstern. Das Leuchtschild über dem Eingang flackert. „HELL“ steht da, weil das „S“ ausgefallen ist. Die Buchstaben leuchten weiß und wirken falsch in der Nacht. Ich bin Mutter. Zwei Kinder, 5 und 8, alleinerziehend. Tagsüber arbeite ich im Supermarkt, meist zwischen den Regalen mit Obst und Gemüse.
Zwei Nächte in der Woche bin ich hier. Nachtschicht. Weil ich sonst nicht weiß, wie ich das alles schaffen soll. Miete und so. Ich mag die Stunden, in denen nichts passiert. Automaten brummen. Manchmal schnaubt die Kaffeemaschine ohne Grund. Ich sortiere Zigarettenschachteln und Kaugummipackungen, ordne sie nach Farbe. Mal rot nach oben, blau unten. Manchmal nach Stimmung.
Die meisten kommen wegen Energiedrinks, Kondomen, Chips, Zigaretten. Alles, was man nachts dringend braucht, aber eigentlich nicht will.
Und dann gibt es Nächte, in denen die Welt nicht mehr funktioniert, wie sie soll. Wenn Menschen auftauchen, die irgendwo aus der Bahn geraten sind. Manchmal frage ich mich, ob wir nicht alle längst außer Kontrolle sind – jeder auf seine leise oder laute Art. Nur die Maschinen brummen verlässlich. Die Menschen kommen und gehen. Und ich stehe da, halte mich an den Regalen fest wie an einem Geländer. Weil irgendwer es ja muss.
00:17 Uhr
Ein Mann im Anzug, aber ohne Schuhe. Barfuß, die Hosen leicht hochgekrempelt. Zielstrebig geht er zum Kühlregal, holt sich eine Salami im Teigmantel.
„Warmes Essen gabs nicht mehr“, sagt er und schiebt nach: „Bin grad von meiner eigenen Hochzeit abgehauen.“ Er lächelt dabei nicht. Ich sage nichts.
Ich scanne die Wurst. 1,79 Euro. Sage immer noch nichts. Er zahlt mit einem Fünfer, lässt das Rückgeld liegen.
Als er rausgeht, sagt er: „Ich glaub, ich hab’s grad zum ersten Mal richtig gemacht.“
Es ist wieder still. Ich greife zum Wischer und fege langsam zwischen den Regalen, während das Brummen der Automaten den Raum füllt. In meinem Kopf noch der letzte Satz des Mannes „… alles richtig gemacht.“
01:02 Uhr
Ein Mädchen kommt rein. Vielleicht sechzehn. Schminke verschmiert, Glitzer im Gesicht. In der Hand ihre Absätze.
„Darf ich mich kurz setzen?“, fragt sie.
Ich zeige auf den kleinen Hocker neben der Kaffeemaschine. Sie nimmt sich eine Packung Traubenzucker, setzt sich und isst.
„Ist alles in Ordnung?“, frage ich und ahne, dass sie die Packung nicht bezahlen wird.
„Meine Freundinnen sind in einem Taxi, ich hab meins verpasst“, sagt sie.
Ich frage nicht, warum sie nicht einfach ein neues ruft. Sie sieht mich an, müde und ganz wach zugleich.
„Du bist echt nett“, sagt sie, steht auf und geht.
Die Traubenzuckerpackung bleibt leer auf der Ablage neben der Kaffeemaschine liegen. Ich nehme sie und werfe das Papier in den Müll.
01:48 Uhr
Zwei Männer, Anfang dreißig. Einer mit Glatze, der andere mit einem Hamstergesicht. Sie kaufen vier Dosen Bier, ein Paket Trockenfleisch und einen Einwegrasierer.
„Die Nacht wird lang“, sagt der mit dem Hamstergesicht.
„Oder sehr kurz“, sagt der andere.
Sie lachen zu laut. Ich lasse sie gehen, obwohl sie beim Rausgehen einen Schokoriegel mitgehen lassen. Ich hab keinen Nerv für Diskussionen. Keine Lust auf Stress. Ich notiere „Diebstahl wahrscheinlich“ im internen Protokoll. Das muss reichen.
02:25 Uhr
Ein Junge kommt rein. Allein. Er ist vielleicht zehn. Schlafanzug mit Dinosauriern, barfuß in Schlappen.
„Einmal Gummibärchen“, sagt er.
Mein Mutterherz macht einen Sprung.
„Bist du ganz allein?“, frage ich.
„Meine Mama schläft immer erst, wenn ich was Süßes gegessen hab“, sagt er.
Ich sehe raus. Ein Auto, Motor läuft. Auf dem Fahrersitz eine Frau, Zigarette im Mund.
Ich sage nichts. Nicke. Er bezahlt mit zwei Eurostücken. Lächelt und geht.
Als die Tür zufällt, winkt er mir. Ich winke zurück. Niemand sieht es.
Ich hole mein Handy aus dem Rucksack. Auf dem Display meine beiden Kids. Wie gut, dass ich weiß, dass sie sicher in ihren Betten liegen. Wenn ich hier bin, passt die Nachbarin auf.
03:09 Uhr
Ein Paketbote. Kommt jeden Dienstag. Kaffee, schwarz, zwei Schokobrötchen, wie immer.
„Bin schon auf dem Rückweg“, sagt er.
„Du bist irre“, sage ich.
Er zuckt mit den Schultern. „Zu wenig Schlaf, zu viel Welt.“
Ich mag ihn. Er ist immer freundlich, auch wenn er im Stress ist. Er riecht immer leicht nach Gummi und Waschmittel. Ich gieße mir einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne ein. Die Kaffeemaschine ist nur für Kunden.
03:26 Uhr
Ein junger Mann, vielleicht Mitte dreißig wie ich. Gut zehn Minuten steht er einfach nur vorm Kühlregal. Nimmt Dosen raus, stellt sie wieder rein. Am Ende nimmt er nichts.
„Brauch ich nicht“, sagt er. „Ich wollte nur irgendwo drin stehen, wo’s hell ist.“
Ich sage: „Hell ist hier ja genug.“
Ich grinse. Er lächelt. Traurig. Oder müde. Dann geht er wieder in die Dunkelheit raus.
Vielleicht hat er das fehlende S nicht gesehen.
03:40 Uhr
Ein Typ mit zwei Handys. Beide am Ohr. Er redet gleichzeitig mit zwei Frauen. Ich verstehe nur Fetzen.
„Nein, Schatz, ich liebe nur dich“,
dann ins andere: „Sie ist nur eine Bekannte.“
Er kauft nichts. Nur Drama. Beide Gespräche enden gleichzeitig. Draußen tritt er gegen den Mülleimer.
Ich stelle den Eimer wieder auf. Es riecht nach Regen. Ich frage mich, wie viele in dieser Nacht noch unterwegs sind, weil sie nicht wissen, wohin sonst – weil irgendetwas in ihrem Leben aus dem Ruder gelaufen ist.
04:12 Uhr
Ein alter Mann mit Pudel. Der Hund trägt weiße Löckchen und einen rosa Pullover.
„Sie friert schnell“, sagt der Mann meinem Blick folgend.
Er kauft zwei Bockwürstchen. Gibt eins dem Hund.
„Meine Tochter sagt, ich soll nicht mehr allein raus. Aber ich hör schlecht.“
Er zahlt passend. Der Hund winselt.
„Gibts hier auch Lotto?“
„Leider nein“, sage ich und schüttle den Kopf.
„Schade. Vielleicht hätt ich heute gewonnen.“
Er geht langsam. Der Hund zieht voraus. Als Kind hatten wir auch einen Hund. Er wohnte in einer Transportbox unter der Treppe. Ab und zu ging mein Stiefvater mit ihm Gassi. Mit Tieren konnten Mutter und er nicht.
04:23 Uhr
Ein älteres Ehepaar. Sie in Fleecejacke, er mit Strohhut. Er trägt einen Kanister. Sie nimmt einen Apfel.
„Wir fahren jetzt ans Meer“, sagt er.
„Heute?“, frage ich.
„Wenn wir’s jetzt nicht machen, machen wir’s nie.“
Ich scanne beides. 11,48 Euro. Sie zahlen passend. Als sie gehen, winkt sie mir noch. Er hupt. Zweimal. Ich hoffe, sie fahren wirklich los. Nicht nur bis zur nächsten Raststätte.
Ich war noch nie am Meer. Ist bestimmt schön dort.
Die Kaffeemaschine faucht. Ich zähle Zigarettenstangen. Alles ist klebrig vom Vortag. Ich will duschen. Will schlafen. Und nicht wiederkommen. Aber ich weiß, dass ich übermorgen wieder hier stehe.
04:40 Uhr
Ein schwarzer Porsche 911 hält. Eine Frau rauscht durch die Tür. Vielleicht Anfang vierzig Haare streng zurückgebunden. Sie trägt einen weißen Hosenanzug – fehlerlos, fast zu sauber für diese Uhrzeit. Kein Blick nach links oder rechts. Sie nimmt eine Flasche stilles Wasser aus dem Regal, im Vorbeigehen einen Müsliriegel. Sie sagt keinen Ton, schaut durch mich hindurch. Dann rauscht sie wieder raus. Ich blicke ihr nach. Am Auto lehnt ein Mann. Unrasiert, Leinenhose, an den Knien ausgebeult. Lange Haare. In der linken Hand hält er eine Avocado, in der rechten ein Taschenmesser. Er schält sie mit fast religiöser Konzentration, als wäre das seine tägliche Meditation. Auf dem Beifahrersitz liegt eine Zeitschrift: Der Bonsaibaum. Auf dem Cover: ein winziges Pflänzchen in einer noch winzigeren Schale.
Sie sagt etwas. Er nickt. Sie startet den Motor. Er nimmt noch einen Bissen Avocado langsam, dann steigt auch er ein. Der Porsche verschwindet laut in der Morgendämmerung. Ich bekomme Lust auf einen Apfel.
05:55 Uhr
Ein Mann kommt rein. Mittleren Alters, aber mit einem silbernen Partyhit auf dem Kopf. Plastiktüte in der Hand. Etwas klappert. Seine Hose ist mit buntem Isolierband geflickt, über dem T-Shirt trägt er eine Warnweste. Auf der Brust steht in Filzstift: Zeitreisender – kein Personal.
Er nickt mir zu, als wäre ich eine alte Bekannte.
„Ist heute der 12. oder schon der 13.?“, fragt er.
Ich sage: „Der 13.“
Er schaut erschrocken. „Verdammt. Ich hab den Umsprung verpasst.“
Er zieht ein Einmachglas aus seiner Tüte. Bunte Murmeln sind darin, eine Taschenlampe, ein Zettel mit Zahlen und – ein Plastikelefant.
„Ich brauch etwas, das nach Metall schmeckt“, sagt er.
Ich überlege kurz. Biete ihm ein Cola-Kaugummi an.
„Das ist gut. Zucker konserviert Erinnerung.“
Er zahlt mit einem 50-Euro-Schein, nimmt das Wechselgeld exakt abgezählt zurück, murmelt: „Für die Rückreise.“
Bevor er geht, schaut er mich lange an. „Auch du hast heute Nacht drei Entscheidungen getroffen, von denen nur eine sichtbar war.“ Dann verbeugt er sich leicht und geht.
Ich sehe, wie er sich draußen einen Einkaufswagen schnappt. Keine Zeitmaschine, aber mit leuchtenden Katzenaugen vorne dran.
06:00 Uhr
Sandra kommt rein. Auf dem Kopf einen Dutt, die Thermoskanne unter dem Arm.
„Ruhig heute?“, fragt sie Kaugummi kauend.
Ich nicke. „Ganz normaler Dienstag“, sage ich und nehme meinen Rucksack.
Draußen riecht es nach Benzin und feuchtem Gras. Der Himmel ist blassblau. Das „HELL“-Schild flackert. Ich sehe es lange an.
Vielleicht bleibt das so. Vielleicht ist das gar kein Fehler – nur Englisch.
Diese Geschichte habe ich für den 28. Moerser Literaturpreis geschrieben und damit den 2. Platz gewonnen.




