Szenen eines Tages

Der Schwimmer

Eine Frauenstimme kreischt durch die Lautsprecher der Schwimmhalle: „Ende der Badezeit ist in 45 Minuten!“
Das Becken liegt ruhig und mit spiegelglattem Wasser da. Die Liegestühle ringsherum sind schon verlassen, niemand schwimmt mehr und nur das Rauschen der Pumpe ist zu hören.
Ein junger Mann, Mitte zwanzig, unscheinbar, betritt die Szene. Mit ernstem Blick tritt er an den Beckenrand, als würde es um die langersehnte Goldmedaille gehen – ein richtiger Schwimmer. 

Ordentlich stellt er seine Badeschlappen an den Beckenrand. Aus einem Etui nimmt er seine verspiegelte strahlend weiße Schwimmbrille und legt das Etui perfekt ausgerichtet auf seine Schuhe.
Im Wasser reinigt er die Gläser gründlich mit Spucke. Ein verbissener prüfender Blick – noch nicht sauber. 
Kleine Wellen zeichnen sich auf der Wasseroberfläche ab.
Mehrmals setzt der junge Mann die Brille auf und wieder ab, justiert, putzt. Es vergehen gut zehn Minuten. Er atmet tief ein, ich halte die Luft an. 100 Meter Brust – wie ein Pfeil wird er durch das Wasser schießen. 
Zielsicher taucht er ins Blaue. Ich suche das Becken ab, bestimmt wird er in der Beckenmitte mit langen Zügen auftauchen.

Fast da, wo er gestartet ist, ploppt der Kopf des Schwimmers wieder an die Oberfläche. Er holt Luft, taucht unter. Irgendwie kommt er nicht vom Fleck und seine Füße platschen jedes Mal seltsam aus dem Wasser. Das Wasser kräuselt sich irritiert.
Vielleicht braucht er noch einen Moment, um in den Flow zukommen, denke ich.
Doch nach zwei Bahnen klammert er sich schnaufend an den Beckenrand. Time out – disqualified. Ich verlasse etwas enttäuscht meinen Liegestuhl.

Kurzgeschichte

Der Weihnachtsbaumkauf

Weihnachtsbaumkauf – Es ist ein herrlicher Wintermorgen, als er seine Äste der Sonne entgegenstreckt. Ein kleiner Zaunkönig lässt sich zwischen seinen saftig grünen Nadeln nieder und singt seinen Morgengruß.
„Das war aber ein schönes Lied“, sagt er zu dem kleinen Vögelchen.
„Danke“, antwortet es. „Ich bin Fridolin und wer bist du?“
„Ich heiße Theobald“, sagt der Baum. „Du darfst dich gern an meinen Zapfen stärken.“
Die beiden plaudern noch ein wenig, bis der kleine Zaunkönig in den Tag aufbricht.

Theobald liebt den Winter, es ist nicht so warm und so viel ruhiger. 
Wäre da nur nicht immer wieder dieses „Tschaaackkk!“, „Tschaaackkk!, gefolgt von einem langsamen Knarzen und einem lauten „Tschhhhht!“. Die anderen um ihn herum erzählen davon. Es sind die Menschen, die wie jedes Jahr zwischen den Bäumen umher marschieren, vor einem stehen bleiben, ihn abhacken und mitnehmen. Bei Theobald sind sie bisher immer vorbeigegangen.
Er beschließt, noch ein Weilchen dem Vogelgezwitscher in der Ferne zu lauschen. Er gähnt und bald schon fallen ihm die Augen zu.

Eine piepsige und laute Stimme weckt ihn auf. 
„Papa! Ich will den! Ich will den Baum da!“, schreit ein kleines Mädchen und zeigt auf ihn. Auf Theobald. Ihm gefriert fasst der Baumsaft im Stamm. 
Zwei erwachsene Menschen tauschen bunte Papierchen und kleine runde Dinger. Dann greift einer von beiden nach einem komischen Ding.

„Tschaaackkk!“, macht es. Aua! Das hart weh getan. Theobald schaut zu den anderen Tannen. Mitfühlend lassen sie die Äste hängen. Wieder ein lautes „Tschaaackkk!“. Theobald merkt, wie ihm schwindelig wird. 17 Jahre hat er hier gestanden. Jeden Morgen den Morgengrüßen der Vögel gelauscht. Im Sommer den Lerchen und der Nachtigall. Im Winter den Zaunkönigen, den Amseln und den Meisen. Theobald hat Schmerzen, wieder ein „Tschaaackkk!“. Er kann sich nicht mehr halten, spürt, wie er kippt. „Tschhhhht!“

Er prallt heftig auf den Boden. Spürt, wie ein Ast an seiner linken Seite bricht. Plötzlich wird er gezogen, angehoben und durch ein Ding gezogen. Hilfe, jetzt steckt er in einem Netz und kann sich nicht mehr bewegen. Ihm schwinden die Sinne. Als er wieder zu sich kommt, steht Theobald in einem Kasten, es ist warm und es gibt ein durchsichtiges Quadrat, aus dem er die Wolken sehen kann. Unten am Stamm drückt ihn etwas. Der kleine Mensch von vorhin steht vor ihm. Holt rot blitzende Kugeln aus einer Kiste und hängt sie ihm an die Astspitzen. Eine nach der anderen. Ein großer Mensch hängt ihm Lichter dazwischen. 

Das ist es nun, wovon die anderen Bäume gesprochen haben. Die Wäre hier macht ihn wieder ganz benommen. Er hat so wahnsinnigen Durst. Die ersten Nadeln fallen herunter. Hoffentlich ist es bald vorbei, denkt er noch, bevor er das Bewusstsein verliert.

[Mein Beitrag für den #shortstorydienstag von Ira Laudin und M. D. Zwist zum Thema „Weihnachtsbaumkauf“.]

Kurzgeschichte

Das leere Haus

altes Haus

Staub wirbelt auf und funkelt in den hineinfallenden Sonnenstrahlen, als ich die Haustür öffne. Ich gehe die Mahaghoni-Treppe hoch, die trotz ihrer halbrunden dunkelgrünen Teppiche leise knarzt. Ich halte mich am ebenso grünen Geländer fest. Ich erinnere mich noch an die Pflanze, die hier entlang rankte und Äffchen aus Holz und Leder, die darin hingen. Oben angekommen erblicke ich mein ausgefranstes Ich im alten Garderobenspiegel. 

Rechts zeigen vier kleine Fenster auf die Straße hinaus, an einem der Fenster ist die kleine Gardine zur Seite geschoben. Ich öffne die Wohnungstür und trete langsam hinein. Rechts steht die Tür zum Schlafzimmer auf. Der alte schwere Holzschrank hält hier noch einsam die Stellung. Die alte Wanduhr ist stehen geblieben. Drei Minuten vor Zehn. Ihr lautes Ticken habe ich noch im Ohr. Ich schaue nach links. An der Wand steht die Kommode, in der immer die Schokolade versteckt gewesen ist. Darauf steht das alte Grüne Telefon. An der Wand hängen Familienfotos, welche in Farbe aus den 1990ern und 80ern, andere in schwarz-weiß  von Anfang der 1930er Jahre und eines von dem alten Volvo Kombi. 

Hinter dem Makrameevorhang, der sein strahlendes Weiß schon lange verloren hat, ist die kleine Küche mit der Dachschräge. Das pulsierende Herz des ganzen Hauses, für 22 wurde hier gekocht. Heute klappern keine Töpfe mehr und statt Bratenduft, liegt Muff in der Luft.  Die lange Schrankwand zeiht mich weiter in den Raum.  

Meine Schritte auf dem grünblauen Fliesenboden. Mein Blick schweift vorbei an den alten Klassikern und einer ganzen Reihe Rätselbüchern, die eine kleine graue Büffel-Statue stützt. In der großen Obstschale, die immer bunt gefüllt gewesen ist, liegt eine Wallnuss. Ich nehme sich hoch. Sieht noch ganz ok aus. Als ich sie wieder in die Schale gleiten lasse, hinterlässt sie eine Spur in der dicken Staubschicht. 

Auf der anderen Seite des großen Wohnzimmers war die gemütliche Sofaecke. Der braun-gekachelte Wohnzimmertisch und der schwere Röhrenfernseher mit der dicken Lupe stehen noch auf dem dicken Teppich. Auf dem Tisch liegt das Programmheft noch aufgeschlagen, die Fernbedienung gleich daneben. 

Ich gehe durch den Raum, ziehe einen Stuhl vom achteckigen Esstisch. Hier haben wir alle gesessen, gelacht, geredet und gegessen. Der große Tisch, voll mit Essen — Braten, Festtagstorte und auf dem Weg zum Spielen noch die Scheibe Käse auf die Hand. Dann sind die ersten gegangen, andere verblasst. Immer mehr Stühle blieben leer. 

Ich streiche behutsam eine Falte aus dem beigen Leinentischtuch. 

All die Bilder, wie ein Kinofilm in meinem Kopf. Kann es noch hören, das Lachen und Geschrei. Spüre noch die Umarmung, die nicht bewertet, einfach nur liebt. Das Gefühl von Zusammenhalt. Ich rieche noch den Hauch von Melisse in der Luft, der fasst verflogen ist. Höre noch das Mandolinenspiel zum Abschied am Fenster. 

Vom Balkon fällt mein Blick in den Garten, der sich bis da ganz hinten an den Waldrand schmiegt. Da haben wir gespielt, sind über die alten Bunker gesprungen, haben uns hinter Bäumen versteckt. Im Garten gab es eine Schaukel, einen Sandkasten. Es war bunt, voll Blumen und Beeren und einem Pflaumenbaum. 

Jetzt ist der Garten nur noch eine wilde Wiese, der jede Liebe fehlt. 

Eisige Stille hüllt mich ein. Es ist Zeit. Ich gehe die Treppen hinunter, lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Ein letzten Mal drehe ich mich um, zu diesem leeren Haus das keine Seele mehr hat.

Kurzgeschichte

Warten

Die Anzeige rattert, ich recke den Hals. In roten Buchstaben erscheint das Wort „inställt“ – abgesagt. Mein Zug von Stockholm nach Berlin fällt aus. Samstagabend, kurz nach 21 Uhr. Jetzt noch ein bezahlbares Bett zu finden, ist unmöglich. Ich muss warten, bis am Morgen ein Zug fährt.

Hart und kalt ist die lange Holzbank am Kopf der riesigen Bahnhofshalle. Alle Läden und Cafés haben schon geschlossen. Ich klappe den Kragen hoch und vergrabe meine Hände in der Jacke. Im Zehn-Minuten-Takt spucken die Züge Menschen aus, die eisige Kälte von den verregneten Bahnsteigen hereinbringen. Neben mir sitzen ein paar Wartende, die Augen fest auf ihre Telefone geheftet. Reisende queren meinen Blick. Auch sie starren alle wie Zombies auf ihre Telefone. Fast umsonst tauchen die goldenen Leuchter an der Gewölbedecke, verziert mit einer beflügelten Krone, die imposante Bahnhofshalle in ein angenehmes Licht und spiegeln sich auf den Marmor-Fliesen.

Ich merke die Müdigkeit eines langen Tages in mir aufsteigen. Schäbige alte Holzbank.

Eine ältere Dame im dicken Wollmantel setzt sich neben mich. „Wenn sie erlauben?“, fragt sie. Auf dem Kopf trägt sie ein seltsam altertümliches Hütchen. Vielleicht trug man es so vor 150 Jahren. Sie blättert in einer Tageszeitung. Ich versuche eine Überschrift zu lesen und bleibe am Tag hängen. 

„Stockholm söndag den 18 december 2022“, nicht mehr lange, dann ist Weihnachten, denke ich.

Mir fallen die Augen zu. Gleich schrecke ich wieder auf. Ich muss auf die Fahrplan-Anzeige schauen. Mein Zug nach Berlin – vielleicht fährt einer ganz früh am Morgen. Die Anzeigetafel über dem bunten Kiosk ist verschwunden. Stattdessen steht am Boden eine Holztafel, auf der kleine Schildchen stecken.

Da stehen Uhrzeiten, Züge und Bahnsteige drauf. 21:12 Berlin. Ein Bahnbeamter in fast militärischer Uniform sucht aus einem Kästchen ein weiteres Schild und steckt es dazu: „inställt“. Vom Bahnsteig ertönt ein lautes Pfeifen wie von einer Dampflok. Mir fällt auf, dass der Kiosk selbst auch nicht mehr da ist. Verwirrt setzte ich mich wieder auf meinen Platz auf der Bank. Es ist plötzlich lebhaft geworden. Die Menschen unterhalten sich angeregt, sie schauen umher, schauen sich an. 

Frauen in Winterkleidern mit gepufften Ärmeln und Wollmänteln mit kleinen Hütchen auf dem Kopf, flanieren neben Männern mit Gehstock und Zylinder. Die Läden mit ihren bunten Reklamen sind nicht mehr da, nur ein Café gibt es noch. 

Eine junge Frau fragt, ob sie sich setzten darf. Sie trägt einen dicken Wollmantel. Auf dem Kopf trägt sie ein kleines Hütchen. Man trägt es so. Sie blättert in einer Tageszeitung. Ich versuche eine Überschrift zu lesen und bleibe wieder am Tag hängen. „Stockholm torsdagen den 18 december 1884“ steht dort geschrieben. Ich muss hier raus an die frische Luft. Irgendetwas stimmt nicht. Ich springe auf, mein Herz rast. Ich renne die unendlich lange Bahnhofshalle entlang. „Hoppla!“, ruft ein Zylinder. Die Tür schwingt auf. Es schneit. Der Vorplatz ist weihnachtlich geschmückt. Ich weiche einer Pferdekutsche aus, die weitere Reisende bringt. Springe einem Mann mit Handkarren aus dem Weg. „Hey!“, ruft jemand. „Sie können hier im Bahnhof nicht schlafen.“

Kurzgeschichte

Der Handwerker

Im Haus ist es noch ganz still und verschlafen. Nur das leise Gurgeln der Kaffeemaschine ist unten in der kaum beleuchteten Küche zu hören. In der Ferne rauschen die Frühaufsteher über die Autobahn. Wenn man wirklich lauscht, dann kann man sogar das Ticken des großen Zeigers wahrnehmen, der sich schwerfällig zur Zwölf quält, während der Kleine ihm voraus jahgt. Draußen ist es noch stockfinster. Die leicht pink- und rotfarbenen Schlieren der ersten Sonnenstrahlen lassen den Morgen nur erahnen.

„Guten Morgen Schatz. Hast du gut geschlafen?“, sagt sie. Das Frühstück steht schon für ihn auf dem Tisch, als er in die Küche kommt. Mit einem festem Griff, setzt er den Becher an und trinkt einen großen Schluck Pfefferminztee. Ein herzhafter Biss vom Brötchen folgt. Es ist dick mit Leberwurst beschmiert und landet gleich wieder neben den Apfelstücken auf dem Frühstücksbrett. 

Im Flur zieht er den Reißverschluss seiner Fleecejacke zu und inspiziert kurz die Flecken auf Brust und Ärmeln. Zeugen einer harten und dreckigen Arbeit. Den Werkzeuggürtel schnallt er heute lockerer um, sieht besser aus. Alle Werkzeuge stecken in ihren Schlaufen: Hammer, Schraubendreher, Zollstock, ein dicker Bleistift. Die Werkzeugkiste mit Bohrer, Schrauben und Dübeln steht schon an der Tür.

Er wirft noch einen Blick in den Spiegel, setzt den gelben verschrammten Baustellenhelm auf und springt in die schweren Sicherheitsstiefel. Unter den Sohlen klebt noch dick die Erde aus der letzten Baugrube. Die Hände gleiten schnell in die neuen Arbeitshandschuhe. Noch ganz sauber und in frischen Farben.  Dann öffnet er die Tür und ruft in die Stille: „Los Mama, ich muss in den Kindergarten!“

Die Geschichte „Der Handwerker“ war mein Beitrag für den damaligen #shortstorydienstag von der geschätzten Kollegin Ira Laudin und M. D. Twist zum zum Thema „Wartehalle“. 

Kurzgeschichte

Schreibblockade oder Schusswechsel mit Nuckel

Freiburg hatte ich an einem Tag durch. Das Schwabentor hatte mir gefallen und die kopfsteingepflasterten Gassen. Ich schaute gerne zu, wie die Kinder kleine Holzboote – die Bächle Boote, die schmalen Wasserläufe der Altstadt entlang fahren ließen.

Mein Hotelzimmer war gemütlich eingerichtet. Ein wenig urig mit schönen alten Holzmöbeln, ein kleiner Schreibtisch direkt am Fenster und mit Blick in den entfernt liegenden Schwarzwald. Ich wäre gut beraten, zu schreiben, die Deadline rückte näher. Nur wollte mir einfach nichts brauchbares einfallen. Bis auf ein paar Krickelein blieb das Blatt leer. Um meinen Kopf zu lüften fuhr ich ein bißchen herum, raus aus der Innenstadt. In Denzlingen hielt ich an einem Restaurant, der Biergarten sah nett aus.

Das Restaurant war ein schönes altes Fabrikgebäude, weiß getüncht und mit großen Fenstern. Im inneren hatte man den vergangenen Industriecharme gelassen. Ab und an schienen hier auch Bands zu spielen. Der Laden gefiel mir.

Ich setze mich draußen an einen 4-er Tisch, der allein unter einer schönen alten Kastanie stand. Mit der Spitze meines rechten Schuhs kratzte ich gelangweilt und ideenlos eine Linie in den staubigen Kiesboden. Vor mir stand ein Glas Weinschorle und außer diese zu trinken, hatte ich heute keine weiteren Ziele. Mein Notizbuch döste träge in meinem Rucksack. An den anderen Tischchen saßen Grüppchen, die sich angeregt unterhielten und die mittelalte Bedienung in badischer Tracht tänzelte zwischen den Tischen umher und brachte stetig neue Getränke.

„Ist hier noch frei?“, fragte eine tiefe Männerstimme schräg hinter mir. Der Typ stellte sich als Nuckel vor und kniff die Augen zusammen, um mich gegen die Sonne zu sehen. Die Falten zwischen Nase und Mund erzählten von einem bewegten Leben. Er hatte was von einem Cowboy. Ich ließ ihn Platze nehmen.

Er saß kaum, da hob er zu einem wehmütigen Monolog über seine Dobermann-Hündin an: „In meinen Händen wird jedes Tier zur Waffe, haben die gesagt. Die Wichser haben mir verboten Hunde zu halten.“ Mit ‚die‘ und ‚Wichser‘ meinte er wohl ein paar Polizeibeamte. Er redete schnell. Mit dem Zeigefinger wischte er unter seiner Nase entlang als hätte er Sorge, man könnte noch Spuren einer kurz vorher konsumierten Substanz sehen und fummelte aus einem seiner abgewetzten Cowboystiefel eine Packung Streichhölzer.

Noch einmal wischte er unter der Nase lang und nippte an der Limo, die er sich zwischenzeitlich bei der Bedienung bestellt hatte. Die Zigarette zauberte er aus dem anderen Stiefel und zündete sie an. Was für ein Freak und was für ein bescheuerter Name. Mein Blick fiel auf seine Unterarme und die Narben, die das hochgekrempelte, blau-weiße Flanellhemd freigab. Nuckel bemerkte es und fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, wie es sich anfühlt, wenn eine Pistolenkugel in den Körper eindringt.

Ich trank einen Schluck meiner Schorle und drehte das Glas angespannt auf dem Tisch hin und her. Wollte ich mir so etwas überhaupt vorstellen? Nein, eher nicht. Er saß am anderen Tischende und redete nicht unbedingt leise und immer noch schnell. Dennoch schien keiner der Gäste an den Nachbartischen seinem Monolog zu folgen. „Äh, nein. Ich kann mir das nicht vorstellen,“ erwiderte ich. Er winkte ab. Im ersten Moment täte es gar nicht weh, aber es würde unangenehm nach verbrannter Haut riechen. Er erzählte davon, als wäre es das Normalste von der Welt, angeschossen zu werden.

Mit dem Zeige- und Mittelfinger deutete er auf die zwei großen Narben. Wischte sich unter der Nase lang und zeigte mir eine weitere an der rechten Schulter. All die anderen Schrammen kämen von Messerstechereien, prahlte er. „Ein bewegtes Leben,“ fiel es eher verwirrt als beeindruckt aus mir heraus. Unbeeindruckt meines unqualifizierten Kommentars sprach Nuckel weiter. Vielleicht hatte es ihn auch angeregt, mehr seiner Biographie preiszugeben. Ich bestellte mir bei der Kellnerin noch eine Weinschorle. Sie schaute ein paar mal zwischen und ungleichen Vögeln hin und her und dachte sich sicherlich ihren Teil.

Nuckel nippte noch einmal an seiner Limo und erzählte weiter. Bevor er sich im Scheinwerferlicht der Ordnungshüter etwas bedeckter halten musste, war er beruflich in Köln unterwegs. Als Zuhälter hatte er dort gejobbt und ganz gut Geld verdient. Den Spitznamen hatte er, weil… Nein. Ich wollte es nicht wissen. Ich hatte Lust wieder in mein Hotelzimmer zu fahren, aber irgendwie faszinierte mich diese zwielichtige Gestalt in Karohemd und Cowboystiefeln. Ich fragte mich, warum er mir das alles erzählte und merkte, wie er mich plötzlich mit einem eiskalten Blick anschaute.

Mit tiefer Stimme, die fast drohend klang, sagte er: „Ich muss los.“ Dann stand er auf, schnippte seinen Zigarettenstummel auf den Boden, um ihn mit der rechten Stiefelspitze in den Kiesboden zu mahlen. Mit der linken Hand wischte er sich unter der Nase lang, dann trat er ab. Ich stellte mir vor, wie er sich auf seinen Gaul schwang und in den Sonnenuntergang ritt, bereit für die nächste Schiesserei. In Wirklichkeit knatterte er mit einem schäbigen, metallicgrünen Golf vom Parkplatz. Ich bezahlte meine Rechnung und machte mich auf den Weg in mein Hotel, ich musste unbedingt etwas aufschreiben.

Lyrik

Sommer am See

Sandstrand am Baggersee,
Füße im Sand – eine Wespe sticht
mit glühender Nadel, ein brennender Schmerz.
Er steht vor ihr, erklärt ihr die Welt,
krault sie unterm Kinn, als wäre sie sein Schoßhündchen.
Wahrscheinlich ist sie das auch.
Die Kinder der Wildgans bestaunen das vorbei gleitende Einhornboot,
drei wild schnatternde Grazien in seinem Bauch.
Der Bademeister pfeift die pinke Badekappe zurück,
Schwimmen bis zur weiß besegelten Jolle ist tabu.
Kinder bewerfen sich mit Algen, tauchen unter,
Mütter schießen Selfies in leopardenen Badeanzügen.
Wolken ziehen im Osten auf wie Cellulite.
Die Braungebrannte im roten Bikini wendet ihr träges Fleisch,
wie ein Brathänchen im Grill.
Ein Mann steht im Wasser, Lehrer auf dem Pausenhof.
Sommer am See.