Kurzgeschichte

Warten

Die Anzeige rattert, ich recke den Hals. In roten Buchstaben erscheint das Wort „inställt“ – abgesagt. Mein Zug von Stockholm nach Berlin fällt aus. Samstagabend, kurz nach 21 Uhr. Jetzt noch ein bezahlbares Bett zu finden, ist unmöglich. Ich muss warten, bis am Morgen ein Zug fährt.

Hart und kalt ist die lange Holzbank am Kopf der riesigen Bahnhofshalle. Alle Läden und Cafés haben schon geschlossen. Ich klappe den Kragen hoch und vergrabe meine Hände in der Jacke. Im Zehn-Minuten-Takt spucken die Züge Menschen aus, die eisige Kälte von den verregneten Bahnsteigen hereinbringen. Neben mir sitzen ein paar Wartende, die Augen fest auf ihre Telefone geheftet. Reisende queren meinen Blick. Auch sie starren alle wie Zombies auf ihre Telefone. Fast umsonst tauchen die goldenen Leuchter an der Gewölbedecke, verziert mit einer beflügelten Krone, die imposante Bahnhofshalle in ein angenehmes Licht und spiegeln sich auf den Marmor-Fliesen.

Ich merke die Müdigkeit eines langen Tages in mir aufsteigen. Schäbige alte Holzbank.

Eine ältere Dame im dicken Wollmantel setzt sich neben mich. „Wenn sie erlauben?“, fragt sie. Auf dem Kopf trägt sie ein seltsam altertümliches Hütchen. Vielleicht trug man es so vor 150 Jahren. Sie blättert in einer Tageszeitung. Ich versuche eine Überschrift zu lesen und bleibe am Tag hängen. 

„Stockholm söndag den 18 december 2022“, nicht mehr lange, dann ist Weihnachten, denke ich.

Mir fallen die Augen zu. Gleich schrecke ich wieder auf. Ich muss auf die Fahrplan-Anzeige schauen. Mein Zug nach Berlin – vielleicht fährt einer ganz früh am Morgen. Die Anzeigetafel über dem bunten Kiosk ist verschwunden. Stattdessen steht am Boden eine Holztafel, auf der kleine Schildchen stecken.

Da stehen Uhrzeiten, Züge und Bahnsteige drauf. 21:12 Berlin. Ein Bahnbeamter in fast militärischer Uniform sucht aus einem Kästchen ein weiteres Schild und steckt es dazu: „inställt“. Vom Bahnsteig ertönt ein lautes Pfeifen wie von einer Dampflok. Mir fällt auf, dass der Kiosk selbst auch nicht mehr da ist. Verwirrt setzte ich mich wieder auf meinen Platz auf der Bank. Es ist plötzlich lebhaft geworden. Die Menschen unterhalten sich angeregt, sie schauen umher, schauen sich an. 

Frauen in Winterkleidern mit gepufften Ärmeln und Wollmänteln mit kleinen Hütchen auf dem Kopf, flanieren neben Männern mit Gehstock und Zylinder. Die Läden mit ihren bunten Reklamen sind nicht mehr da, nur ein Café gibt es noch. 

Eine junge Frau fragt, ob sie sich setzten darf. Sie trägt einen dicken Wollmantel. Auf dem Kopf trägt sie ein kleines Hütchen. Man trägt es so. Sie blättert in einer Tageszeitung. Ich versuche eine Überschrift zu lesen und bleibe wieder am Tag hängen. „Stockholm torsdagen den 18 december 1884“ steht dort geschrieben. Ich muss hier raus an die frische Luft. Irgendetwas stimmt nicht. Ich springe auf, mein Herz rast. Ich renne die unendlich lange Bahnhofshalle entlang. „Hoppla!“, ruft ein Zylinder. Die Tür schwingt auf. Es schneit. Der Vorplatz ist weihnachtlich geschmückt. Ich weiche einer Pferdekutsche aus, die weitere Reisende bringt. Springe einem Mann mit Handkarren aus dem Weg. „Hey!“, ruft jemand. „Sie können hier im Bahnhof nicht schlafen.“