Zwei Schokoriegel

Regenbogenfarben

Piet steht schon eine halbe Ewigkeit vor dem Spiegel. Die letzten Gel-Tropfen aus der Tube hat er zwischen den Händen verrieben und sorgfältig seine kurzen braunen Haare zur Seite gekämmt. Mit Abstrichen sieht es fast aus wie bei dem Fußballer Kroos. Die Tube ist leer — schon wieder. Seine Mutter wird Nein sagen, wenn er nach neuem Gel fragt. Für so etwas ist kein Geld da. Wie immer. Ein paar Jungs in seiner Klasse tragen echte Deutschland-Trikots, nicht wie er ein Shirt aus dem Sonderangebot von einer Billigmode-Kette.

Das flackernde Neonlicht über seinem Kopf macht ihn nervös und ein komisches Gefühl breitet sich in ihm aus. Sein Blick fällt auf die Zahnbürste von Max, seinem großen Bruder. Sie liegt wie immer auf der Spiegelablage, aber dieses Mal ist irgendetwas anders. Sie ist unbenutzt. Keine Zahnpastareste, keine Pfütze unter der Bürste, keine Spritzer am Spiegel. Nur trockene Borsten. Das ist noch nie passiert. Ist er gar nicht nach Hause gekommen? Kann eine Zahnbürste bedrohlich wirken? Da ist immer noch dieses komische Gefühl, das seinen Körper durchzieht.

Er wirft die leere Gel-Tube in die unterste Schublade des Badezimmerschranks und schiebt sie mit dem Fuß zu. Das Ding wird auch bald auseinanderfallen. 

Was ist nur mit Max? Die Welt scheint noch die gleiche zu sein. Die zugestellten Wände in der kleinen Wohnung, die Fenster mit Blick auf die anderen Hochhäuser der Siedlung, die immer zur selben Zeit den gleichen Schatten werfen. Ein Meer aus schäbigen Fenstern und hässlichen Satellitenschüsseln, umrahmt von winzigen Balkonen und bröckelnder Farbe. Alles wie immer, wie es schon seine ganze Kindheit ist. Doch jetzt gerade fühlt sich das alles seltsam an.

„Wo ist Max?“, fragt Piet, wie so oft.
„Schläft bestimmt noch“, sagt seine Mutter, ohne aufzusehen.
Es sind immer dieselben Sätze. Piet sagt nichts mehr. Wozu auch. Er kennt die Antwort, er hat sie schon oft gehört: „Schläft bestimmt noch.“, „Er kommt bestimmt später.“, bla, bla, bla. Seiner Mutter scheint wie immer alles egal zu sein, Hauptsache, sie hat Kippen. Eigentlich kümmert das Piet nicht mehr. Er hat ja Max. Doch heute fühlt sich alles nicht richtig an. Er wird dieses komische Gefühl einfach nicht los.

Piet schlurft in sein Zimmer, wirft sich auf sein Bett und starrt auf die Wand gegenüber. Ein paar Fotos hat er mit Stecknadeln befestigt. Eines zeigt ihn in seinem billigen Fußballshirt. Ein anderes zeigt ihn mit Max: Piet, der breit und stolz grinst. Daneben Max, der seinen Arm um ihn gelegt hat. 8 Jahre älter, die Haare abrasiert, ein rotes Shirt unter seiner schwarzen Bomberjacke und dieser Blick, der sagt: „Mir könnt ihr nichts!“ Dann noch ein Foto von Max und seinen Kumpels. Die coolen Jungs der Siedlung, die sich zum Zocken oder Fußballspielen treffen. Die manchmal einfach nur bei den Tischtennisplatten abhängen und mit denen man sich besser nicht anlegt. Die meisten haben schon eine Freundin. Max hatte auch eine. Vor ein paar Wochen hat er mir ihr Schluss gemacht. Zum Glück. Die war irgendwie nervig.

Was ist so anderes? So sonderbar anders? Max ist anders geworden. Ja. Piet kann es nicht erklären, aber anders, das ist klar. Sein großer Bruder, der schon 19 ist, immer ein Vorbild. Ein super Fußballer. Der Max, der immer für ihn da ist. Der starke große Bruder, der für ihn kämpft, wenn jemand ihn verprügeln will oder beleidigt. Der Max, der die Welt ein kleines Stück sicherer macht – der ist immer mehr verschwunden. Seit Monaten. Vielleicht länger. 

Plötzlich ist er immer später nach Hause gekommen. Angeblich trifft er sich mit seinen Kumpels, manchmal verschwindet er einfach. Piet sieht ihn nur noch selten, meist morgens vor der Schule. Dann legt Max ihm einen Schokoriegel vor die Nase und sagt: „Für dich, Champion.“ Ein halbes Grinsen, ein Klaps auf den Hinterkopf im Gehen – das war alles. Keine langen Gespräche. Kein gemeinsames Zocken, kein Fußball auf dem Bolzplatz. Nur dieser eine Moment am Morgen. Kurz. Der Schokoriegel ist für Piet fast schon zu einem Ritual geworden. Ein Versprechen, das sagt: Ich bin noch da. Irgendwie. Wenigstens ein bisschen.

Doch heute ist ein anderer Tag. Ein schrecklich stiller Tag. Kein Riegel auf dem Tisch. Keine Spur von Max. Am liebsten würde Piet heute alles absagen – die Schule, den Tag, die Welt. Er will sich die Decke über den Kopf ziehen und einfach warten, bis Max wieder da ist. So wie früher. 

Doch der kommt erst mitten in der Nacht nach Hause und verschwindet direkt in seinem Zimmer. Piet hört noch die Tür, bevor er in einen unruhigen Schlaf fällt.

*

Schon früh liegt er wach. Er ist hundemüde, aber freut sich, Max gleich zu sehen. Plötzlich hört er Schritte und das leise Quietschen der Wohnungstür. Draußen ist es noch nicht einmal richtig hell. Piets Magen zieht sich zusammen und das ungreifbare Gefühl breitet sich wieder in ihm aus. Er weiß, dass er ihm folgen muss. Er muss wissen, was hier los ist.

Er springt in Hemd und Hose und greift nach Jacke und Schuhen. Im Flur nimmt er seinen Schlüssel vom Schlüsselbrett und schleicht hinaus. Ganz leise, ohne ein Geräusch zu machen. Bei jedem Schritt quietscht seine Sohle auf den Treppenstufen. Billige Markenimitate. Das Treppenhaus riecht nach altem Beton und miefigen kleinen Wohnungen. Die Straße ist leer, die Lichter der Straßenlaternen noch an. Ein bisschen unheimlich.

Max ist schneller, als Piet erwartet hat. Zum Glück kann er ihn noch am Ende der Straße sehen. Wo will er denn hin? Nicht in Richtung der üblichen Treffpunkte: die Tischtennisplatten bei Block 7 oder der Jugendtreff zwischen Block 13 und 14. Der hat um diese Zeit eh noch nicht auf. Auch Richtung Bolzplatz geht er nicht. Stattdessen biegt er in die entgegengesetzte Richtung ab. In eine Gegend, die Piet nicht kennt. Er läuft weiter hinter Max her. Mit großem Abstand und ab und zu duckt er sich hinter ein parkendes Auto. Max dreht sich nicht ein einziges Mal um. Bei jedem Schritt wird Piet mulmiger zu Mute.

Piet weiß nicht, ob er jemals zurück findet. Wobei die Hochaussiedlung ja wahrscheinlich von überall zu sehen ist. Ein paar Straßen weiter verschwindet Max plötzlich in einem Café . Die Fenster sind beschlagen, das Licht ist gedämpft. Piet versteckt sich hinter einem Baum. Nur sein Atem, ein bisschen Herzklopfen und Motorenbrummen in der Ferne. Café Lichtblick liest er auf einem Schild. Er überlegt kurz, aber den Namen hat er noch nie gehört. 

Mittlerweile ist es richtig hell geworden. Eigentlich müsste er in die Schule. Doch er wartet weiter. 

Irgendwann schwingt die Tür auf. Zwei Menschen treten auf die Straße. Zünden sich Zigaretten an, unterhalten sich. Wirken vertraut. Der Mann legte den Arm um die Frau, küsste sie. Beiden lachen. Wo bleibt denn sein Bruder, arbeitet er vielleicht in diesem Café? Piet beobachtete das Pärchen. Wartet. Von Max keine Spur. Ein Postauto hält. Da dreht sich die Frau plötzlich um. Max starrt sie an und alles fällt in sich zusammen. Fällt auseinander wie Staub.

Die Bewegung. Der Gang. Das Gesicht. Nicht fremd. Viel zu vertraut. Das ist Max. Er steht da in einem blauen Kleid, das wie Wasser um ihn fällt. So, als hätte er nie etwas anderes getragen.

Piet duckt sich tiefer, die Hände kalt. Seine Ohren piepen. So laut, dass es wehtut. Max trägt Lippenstift und riesige Ohrringe. Ganz offen. Piet fröstelt. Er weiß nicht, ob er weinen oder lachen oder einfach weglaufen will. Den anderen Mann hat Piet noch nie gesehen. Ein unauffälliger Typ. Nicht wie jemand, der in einem der Blocks wohnt. Keiner von Max Freunden. 

Piet versteht nichts mehr. Er bleibt hinter dem Baum, starr. Etwas in ihm will es nicht sehen. Ein anderes muss. Als hätte jemand einen Fehler ins Bild gemalt. Max, der andere weggeboxt hat, wenn sie Piet beleidigten. Der Max, der immer nur Jeans und Bomberjacke trägt. Er sieht, wie Max sich zu dem Mann lehnt. Wie sie sich wieder küssen. Er versteht gar nichts mehr. Das ist nicht richtig, hat seine Mutter mal gesagt.

Plötzlich wird ihm schlecht, weil er genau weiß, was die anderen sagen würden. Was sie tun würden. Und weil er auf einmal Angst bekommt. Nicht vor seinem Bruder. Sondern um ihn.

Max wirft die Zigarette auf den Boden, drückt sie mit der Spitze eines Stöckelschuhs aus. Dann bleibt er kurz stehen. Schaut sich um. Sein Blick geht in Piets Richtung, vielleicht nur Zufall. Vielleicht spürt er den Wind, der die Blätter bewegt. Dann verschwindet er wieder im Café.

Piet bleibt zurück. Er rutscht am Stamm hinunter, bis er sitzt. Beine angezogen. Stirn auf die Knie. Er bleibt lange so sitzen. Sein Herz schlägt schnell, als wäre er gerannt.
Was ist hier los? Er versteht alles und nichts. Wer ist Max?  Der Max von früher hat nie so ausgesehen, nie so gelacht. Er hat nie wirklich gelacht, fällt Piet auf. Er weiß nicht, was er denken soll. Nur eins weiß er: Er hätte das wahrscheinlich nicht sehen sollen. Oder doch?

Es ist nicht das, was er erwartet hat. Hat er überhaupt etwas Bestimmtes erwartet? Es ist viel mehr, und gleichzeitig nichts. Er kann das nicht begreifen. Nein, er will es nicht. Heute schwänzt er wirklich die Schule. Das Chaos in seinem Kopf treibt ihn ziellos durch die Hochhaussiedlung. Irgendwann landet Piet auf dem obersten Deck des alten Parkhauses. Seit Jahren steht es leer. Baufällig. Er hockt sich an eine Wand, weit genug weg vom rostigen Geländer. Sein Blick auf die grauen Hochhäuser gerichtet. Hier findet ihn niemand. Nur der Wind zerrt an seiner Jacke. Er bleibt sitzen, bis die Schule aus ist.

*

Am nächsten Tag findet Piet keine Ruhe. Nachts, als seine Mutter schläft, schaltet er den alten Laptop an, den Max ihm mal geschenkt hat. Im Internet liest er alles, was er finden kann. Er liest über Menschen, die sich anders fühlen, über Transsein, über Liebe zwischen Männern. Er klickt sich durch Foren, schaut Videos und sogar eine Seite, auf der erklärt wird, wie lange schon Menschen für Akzeptanz kämpfen. Er liest über die Geschichte von LGBTQ, über Zeiten, in denen man dafür bestraft wurde, einfach man selbst zu sein. Es macht ihn traurig und neugierig zugleich. Und ein bisschen stolz, dass Max so mutig ist.

Es vergehen Tage. Piet sieht seinen Bruder kein einziges Mal, aber das Bild von den küssenden Männern bekommt er nicht aus seinem Kopf. Sein Bruder im Kleid. Allein die Vorstellung ist immer noch schräg. 

In der Schule versucht er wie immer zu sein. Spielt Fußball, schießt die Bälle ins Tor. Cool sein, auch wenn seine Schuhe nur zwei statt drei Streifen haben. In seinem Kopf ist noch immer Chaos. So viele Fragen. Was hat er da gesehen? Niemals wird er mit irgendjemandem darüber sprechen können.

Als Piet von der Schule nach Hause kommt, sitzt seine Mutter am Küchentisch. 
„Alles in Ordnung?“, fragt sie unvermittelt.
Piet weiß, dass sie eigentlich gar keine Antwort hören will. Er nimmt sich den letzten Sandwichkäse aus dem Kühlschrank. Scheibe Toast dazu, ungetoastet. Mit seinem spärlichen Mittagessen setzt er sich seiner Mutter gegenüber. Eine Großpackung Zigarettenhülsen steht vor ihr. Fahrig stopft sie vorgerollten Tabak in die Hülsen. Das ist billiger. Manchmal muss Piet das machen, weil sie das Gefummel nervt. Es ist hier vollkommen egal, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Und sowieso hat sie keine Ahnung, was in dieser Wohnung, in diesem Raum, in diesem Leben wirklich passiert.

Als Max an diesem Abend nach Hause kommt, ist Piet noch wach. Er liegt schon im Bett und lauscht. Nie sagt Max so richtig wo er gewesen ist. Nie, was er tut. Die gleiche Person, die Piet immer gekannt hat. Und jetzt? Kennt er ihn überhaupt noch? 

*

Mit hochgezogenen Schultern läuft Piet durch die grauen Häuserschluchten, als ob er sich kleiner machen müsste. In der Schule und im Bus hat er kaum mit jemandem gesprochen.  Von Ecki’s Grill-Eck weht der Geruch von Pommesfett und kaltem Rauch herüber. In einer der Wohnungen im Erdgeschoss plärrt ein Fernseher, irgendwo von oben hört er eine Männerstimme brüllen.
In seinem Kopf rattert es. Max in dem Kleid. Das Lächeln. Die Art, wie er mit dem anderen da stand, so … entspannt. Und plötzlich erinnert sich Piet an Dinge, die er gehört hat. An Sätze im Treppenhaus, im Bus, auf dem Schulhof, Schmierereien an Wänden. Fiese Sprüche gegen Menschen, die das gleiche Geschlecht lieben.
Er weiß, wer so etwas sagt. Manchmal sind es die Väter, manchmal die Jungs. Zum Beispiel der mit dem Tattoo am Hals aus dem Vierten oder der mit dem fiesen Pitbull. Ein paar von den Jungs, die so sprechen, sind sogar Kumpels von Max. Sie alle haben eine Meinung, obwohl sie nichts wissen. Gar nichts.

Piet spürt Wut in sich. Nicht gegen Max. Nein. Er ist wütend auf die anderen. Auf die, die schreien und verurteilen, ohne nachzudenken. Die auf Leute einschlagen, nur weil sie ihnen nicht passen. Auf einmal findet er alles in seinem Viertel scheiße. Leute fertigzumachen ist ja immer einfach. Aber vielleicht muss man mal was tun. Etwas anders machen. Mit 11 Jahren ist das nicht so einfach.
Abrupt bleibt er mitten auf dem Gehweg stehen, zwischen zwei Müllcontainern. Schaut nach oben, wo irgendwo das Fenster ihrer Wohnung ist. Irgendwo dort oben wird Max später auch sein. Ganz normal. Wie immer. Max ist verdammt noch mal sein Bruder. Und wenn er Kleider trägt – na und?
Er kann Fußball spielen, besser als alle anderen. Besser Mathe als alle anderen. Er liest Bücher. Er hat ihm beigebracht, wie man sich wehrt, wenn einem einer blöd kommt. Er passt auf ihn auf, weil seine Mutter keinen Bock darauf hat. Er teilt immer seinen Döner mit ihm. Er ist derselbe Max. Ob mit Jeans oder Kleid.

„Scheißegal!“, brüllt Piet in den Wind. 

Eine ältere Frau blickt aus einem der vielen Fenster und verzieht empört das Gesicht. Kopfschütteln.
Piet ist es egal. Er geht weiter. Hände in den Taschen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Jetzt fühlt sich besser. Das komische Gefühl, das seit Wochen in seinem Körper wohnt, hat er rausgeschrien.

*

Es ist schon tief in der Nacht, als Max nach Hause kommt. Piet sitzt noch am Küchentisch. Hat sich mit aller Kraft wachgehalten. Ihre Mutter ist schon vor zwei Stunden vor der Glotze auf dem Sofa eingepennt. Da schläft sie immer, damit die Jungs jeder ein eigenes kleines Zimmer haben. Da hört ihre Mutterliebe dann aber auch schon wieder auf. 

Vor Piet liegt der Schokoriegel von gestern. Ein Schlüssel im Schloss. Die Uhr zeigt halb drei.
Max betritt die Küche. In der Hand ein neuer Schokoriegel. Als er Piet am Tisch sitzen sieht, stockt er kurz. Überrascht oder erschrocken.
„Ich habe dich gesehen“, platzt es aus Piet heraus, bevor er es sich anders überlegen kann. Einfach so, ohne ein Hallo.

Jetzt sieht Max wirklich erschrocken aus. Bleibt stehen mit dem Riegel in der einen, seiner Jacke in der anderen Hand. Er starrt seinen kleinen Bruder an, als würde er in seinem Blick irgendetwas suchen.

„Du sagst nichts, oder?“, fragt Max. 

Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage. Die Worte bleiben in der Luft hängen. Piet weiß nicht, was er sagen soll. Er schweigt.
Max löst sich aus seiner Versteinerung und tritt an den Tisch. Er legt den Schokoriegel neben den anderen. Dann schiebt er beide ein kleines Stück hin und her, als müsse er noch etwas ins Gleichgewicht bringen. Dann setzt er sich langsam Piet gegenüber auf einen Stuhl.
Piet sieht nicht auf.

„Ich sag’ nichts“, sagt er leise. Ganz ruhig, ganz selbstsicher.

Max nickt kaum merklich. Er scheint sich ein wenig zu entspannen. Für eine kleine Ewigkeit sitzen sie einfach nur da. Zwei Brüder. Zwei Stühle. Zwei Schokoriegel. Zusammen in dieser beschissenen kleinen Wohnung, in dieser beschissenen Hochhaussiedlung. Draußen fährt irgendwo ein Auto lang.

„Ist halt alles nicht so einfach hier, wenn man anders ist“, murmelt Max. Vielleicht, um sich selbst Mut zu machen.

Piet zuckt mit den Schultern. „Ich finde, du bist fast wie immer.“
Und dann, nach einer kurzen Pause: „Du bleibst trotzdem Max. Was auch immer du tust – es gehört zu dir. Das reicht.“ 

Max sieht ihn an. Fragend. Wie kann ein 11-jähriger Junge, der in dieser Scheiße hier aufgewachsen ist, das so einfach sagen? So ruhig. So sicher.

Piet nimmt sich einen Schokoriegel, den anderen schiebt er seinem Bruder rüber.
Max sagt nichts. Dann muss lächeln. Eine Träne läuft seine Wange hinunter. Schnell weggewischt. Piet tut, als hätte er nichts gesehen. Max greift sich den zweiten Schokoriegel und beißt ein großes Stück ab.

Die Luft in der Küche ist warm. Draußen wird es hell. Vögel fangen an zu singen, irgendwo jault ein altes Moped auf.
In Piets Kopf ordnet sich endlich alles. Es ist doch vollkommen egal, ob Männer Männer lieben, Frauen Frauen lieben oder man sich im falschen Körper fühlt. Was zählt, ist doch, ob jemand da ist. Echt ist. Ehrlich ist. Und immer wieder zurückkommt. Max ist sein Bruder. Punkt. Er schaut ihn an und ist so unendlich froh, dass er ihn hat.

„Es gefällt mir nicht, dass ich dich kaum noch sehe“, sagt er.

„Das ändern wir wieder“, sagt Max mit einem breiten Lächeln.

„Ich habe dich lieb“, antwortet Piet.

Da sitzen sie. Zwei Brüder. Zwei Schokoriegel. Und eine Wahrheit, die stärker ist als alles Gerede da draußen: Alle dürfen sein, wie sie sind. Niemand muss sich schämen. Niemand muss sich verstecken. Und niemand darf dafür fertiggemacht werden. Nie wieder!


Ich habe diese Geschichte für einen Kurzgeschichtenwettbewerb geschrieben. Das Thema war „geheim“. Inspiriert dazu hat mich ein Gespräch zwischen einem Jungen und seiner Mutter aus sozial schwachem Umfeld in einer Eisdiele. Der große Bruder hatte sich geoutet und sie sprachen darüber.