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Deutsche Geschichte: Ist Kolonialismus im Schulunterricht Thema?

Kolonialismus
Foto: Schule ohne Rassismus

Berlin. Mit dem tragischen Tod des schwarzen Amerikaners George Floyd und der weltweit entstandenen #BlackLivesMatters-Bewegung rückte die Debatte um das Thema Rassismus wieder in den Fokus. Woher kommt der alltägliche Fremdenhass vor allem gegen People of Color? „Farbige“ oder „Dunkelheutige“ sagt man nicht mehr, das hat einen unangenehmen Beigeschmack. Es ist ohnehin an der Zeit, im Zusammenhang mit Rassismus auch über Kolonialismus zu sprechen, denn beides ist eng verwoben. 

Die Bundesregierung kündigte im Koalitionsvertrag von 2018 an, man wolle das koloniale Erbe aufarbeiten. Seitdem wird über die Rückgabe entwendeter Kunstobjekten an seine Herkunftsländer diskutiert. An vielen Berliner Schulen sind die Schüler:innen, die in ihren Familien einen Migrationshintergrund haben, mittlerweile in der Mehrheit. Findet das Thema Rassismus und die damit verwobene Kolonialgeschichte an Berliner Schulen überhaupt statt?

Deutschlands koloniale Vergangenheit

Während Großmächte wie Frankreich und England eine Kolonie nach der anderen erbauten, fing Deutschland erst spät an mitzumischen. Nach einer rasanten Industrialisierung sprach Reichskanzler Bismarck sich erst gegen eigene Auslandsbesitzungen aus, änderte dann aber seine Meinung. Kurzerhand stellte er die Plantagen des Bremer Tabakhändlers Franz Lüderitz an der heutigen Lüderitzbucht in Namibia unter den Schutz des Deutschen Reiches und gab damit auch dem Drängen verschiedener Kolonialverbände nach.

Zwischen November 1884 und Februar 1885 fand in Berlin auf Einladung des deutschen Reichskanzlers die sogenannte „Kongokonferenz“ statt. Hier teilten die USA und die europäischen Großmächte den afrikanischen Kontinent untereinander auf und legten einen freien Zugang für Handelswege fest. Um 1884 sicherte sich das Deutsche Reich neben der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) Togo und Kamerun. Dann folgte Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda, Burundi) und zwei Kolonien im Südpazifik und in China.

Im Januar 1904 kam es im heutigen Namibia zum Aufstand. Die dort lebenden Herero lehnten sich gegen die deutschen Kolonialherren auf, was diese mit einer unglaublichen Brutalität niederschlugen. Im Herbst des gleichen Jahres folgte ein Guerillakrieg der Nama, die sich dann aber nach dem Tod ihres Anführers Witboois, der bis heute die Geldscheine Namibias ziert, der deutschen Unterwerfungsverträgen fügten. Dennoch wurden die Herero und Nama im Anschluss in Konzentrationslagern ermordet. Heute spricht man angesichts dessen vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, dem 40.000 bis 60.000 Herero und 10.000 Nama zum Opfer fielen.

Kolonialgeschichte im Schulunterricht mangelhaft?

Nur wenige Schüler:innen haben bislang von den Herero oder Nama und ihrem Schicksal gehört. In Berlin gehört die Kolonialgeschichte zu den Wahlmodulen und es hängt von den Lehrenden ab, ob das Thema überhaupt behandelt wird. Oft wird es dann aus zeitlichen Gründen nur angeschnitten, meist im Zuge der großen Errungenschaften von Weltentdeckern wie Kolumbus oder Humboldt. Ausbeutung und Ermordung bleiben außen vor. 

Sanem Kleff, Pädagogin und Direktorin des bundesweiten Netzwerks Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, sieht die vielen Dimensionen der Kolonialisierung und ihr Erbe eher mangelhaft besprochen. Durch die Debatte um die Rückgabe von erbeuteten Kunstobjekten an die Herkunftsländer, sei das Thema endlich wieder in den Fokus gerückt worden, sagt sie und fährt fort: „Ein weiterer Faktor, der am Ende auch positiv dazu beigetragen hat, das Thema Rassismus größer zu machen, ist die ganze #BlackLivesMatter-Bewegung, so traurig ihr Hintergrund auch ist.

Der Mord an George Floyd hat dazu geführt, dass weltweit eine Menge und vor allem junge Menschen auf die Straßen gegangen sind. Sie interessieren sich dafür, ob Rassismus seine Wurzeln vielleicht in der Vergangenheit hat: Sklaverei, Kolonialismus – diese Themen hängen miteinander zusammen.“ Sie stellt vermehrt fest, dass vor allem junge Leute Rassismus und Diskriminierung sehr kritisch gegenüber stehen. Ausreichend findet sie das aber noch lange nicht.

Martin Brendebach von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie sieht die Berliner Schulen auf einem guten Weg: „Vor 2017, bevor der neue Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1-10 in Kraft trat, gab es im Rahmenlehrplan für das Fach Geschichte noch das Themenfeld „Aufbruch in eine neue Welt“ mit dem Inhalt „Entdecker und Entdeckte“. Seit 2017 gibt es eine Wende und zunehmend wird jetzt der Kontext zwischen der europäischen Expansion der frühen Neuzeit, Kolonialismus und Imperialismus herstellt. Im Koalitionsvertrag steht ja bereits, dass die Rahmenlehrpläne rassismus- und kolonialkritisch sein sollen, und bei den unmittelbar anstehenden Überarbeitungen der Fachteile des Rahmenlehrplans für die gymnasiale Oberstufe wird diese Thematik sicher eine entsprechende Rolle spielen.“

Eine kolonialismuskritische Zukunft

Für Saraya Gomis, Vorstandsmitglied bei EachOneTeachOne (EOTO) sind die  Schulbücher ein großes Problem. Oft ist noch ein alter Buchbestand vorhanden oder neuere Auflagen wiederholen verherrlichende Fotografien aus der Kolonialzeit und geben so ein diskriminierendes Bild wieder. Afrika wird oft noch immer als ein einziges Land dargestellt und nicht wie 55 Staaten mit unterschiedlichen Kulturen und Hintergründen. An diesem Punkt bietet kolonial- und rassismuskritische Schulbuchanalysen Lehrer:innen die Möglichkeit, vorhandenes Lehrmaterial zu prüfen. Zudem steht heutzutage eine Vielzahl alternativer Publikationen (u.a. von der Bundeszentrale für politische Bildung) zur Verfügung.

Das Netzwerk Schule ohne Rassismus hat kürzlich ein Themenheft „Kolonialismus“ herausgebracht. Hier wurden verschiedene Stimmen und Perspektiven zusammengetragen, die einen Anreiz bieten sollen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Dazu bietet das Heft eine verschiedene Anknüpfungspunkte: sei es der Wutbrief gegen Rassismus, den zwei junge Schülerinnen verfasst haben, historische Sachinformationen oder die aktuelle Diskussion um Kunstraub. Martin Brendebach setzt hier auf die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte. Seit zwei Jahren, sagt er, gibt es in Berlin das Programm Bildung zu Kolonialismus und Verantwortung (BIKO).

Menschen aus der postkolonialen Community, die in NGOs aktiv sind und somit eine ganz andere Expertise mitbringen, entwickeln mit der Senatsverwaltung Materialien und Unterrichtsideen, die dann den Schulen zur Verfügung gestellt werden. „Ich glaube, das wird rasch eine gute Wirkung entfalten, da diese Menschen natürlich auch schneller  agieren können und näher an den Schulen dran sind als Schulbuchverlage“, ergänzt Brendebach. Außerdem gibt es Organisationen wie die Initiative schwarze Menschen in Deutschland oder EOTO, die Referent:innen stellen und verschiedene Workshops anbieten. 

Sanem Kleff ergänzt: „Es gibt Stadtführungen auf den Spuren der kolonialen Geschichte Berlins. Das gab es vor zehn, zwanzig Jahren nicht. Ich muss selbst keine Expertin für dieses Thema sein. Heute haben wir viel mehr Unterstützung, viel mehr Ansprechpartner, viel mehr Expert:innen und Materialien, um das Thema vielfältig aufzugreifen.“ Sie fügt hinzu: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der über 30 Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen irgendwie geartet Migrationshintergrund haben. Ein guter Teil von denen kommt ja auch aus Gegenden, die mal kolonialisiert wurden. Auch das sind Anknüpfungspunkte für dieses Thema.“

Leider ist die postkoloniale Bildung eines der vielen fächerübergreifenden Themen, die ihren Raum brauchen, wie Gendergerechtigkeit, #metoo, Klima- oder Demokratiebildung und realistisch gesehen sind die zeitlichen Ressourcen knapp. „Meine Wahrnehmung ist aber schon die, dass insbesondere auch bei sehr vielen Lehrkräften das Bewusstsein für die Thematik groß ist“, so Martin Brendenbach vom Berliner Senat. Und wie schon Erich Kästner sagte:

Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf dem Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition. Aber es ist ganz etwas anderes.

Erich Kästner: Ansprache zum Schulbeginn. München/Zürich 1969